«Normalerweise nicht«, gestand Lobsang.
«Und hier schon gar nicht«, fügte Indiana gereizt hinzu.»Sie haben dieses Ding aus dem Fels herausgemeißelt, Moto! Was soll das alles?«
«In anderthalb Stunden sind Hondos Flugzeuge hier«, antwortete Moto.»Wollen Sie hier oben auf sie warten?«
«Vielleicht gibt es einen Weg«, sagte Lobsang. Moto und Indiana blickten ihn gleichermaßen fragend an, und der Tibeter fuhr in nachdenklichem Ton fort:»Dieses Kloster wurde offensichtlich als Zuflucht gebaut. Ich war noch nie hier, aber ich kenne Klöster wie dieses. Oft gab es einen geheimen Fluchtweg, sollten die Mauern zu brechen drohen oder eine Belagerung zu lange andauern.«
«Und du weißt, wo dieser Fluchtweg ist?«fragte Moto erregt.
«Nein. Aber wenn es ihn gibt, so kann ich ihn finden.«
«Worauf warten wir dann noch?«fragte Indiana.
Sie balancierten über das Dach zurück und durchquerten zum dritten Mal den gewaltigen Dachboden, um ins Innere des Gebäudes einzudringen. Indiana lief zur Treppe und lauschte einen Moment. Von unten drangen dröhnende Schläge in regelmäßiger Folge herauf. Noch hielt die Tür, was Indiana einigermaßen überraschte; sie hatten eine gute Viertelstunde gebraucht, um auf das Dach hinauf- und wieder hinunterzuge-langen. Aber er hatte auch selbst gesehen, wie massiv die Tür und der Riegel waren. Außerdem hatten die Angreifer im Moment wahrscheinlich anderes zu tun. Die Explosion hatte bewiesen, daß Dzo-Lins Männer mehr als ein paar ausgestopfte Uniformen zurückgelassen hatten.
Vor wem waren Dzo-Lins Soldaten geflohen? dachte Indiana.
Welcher Angreifer machte ihnen solche Angst, daß sie selbst ihre Kleider und Decken und einen Teil der Lebensmittelvorräte zurückgelassen hatten?
Sie arbeiteten sich durch zwei Stockwerke wieder ins Erdgeschoß des Tempels hinab. Als sie an der Tür in der großen Halle vorbeikamen, sah Indiana, daß sie bereits ein wenig schräg in den Angeln hing. Bei jedem Schlag rieselte Staub aus dem Mauerwerk, und auch der Riegel hatte bereits einen Riß, der ihn fast auf ganzer Länge durchzog. Noch ein paar Minuten, schätzte Indiana. Allerhöchstens.
Sie durchsuchten ein halbes Dutzend weiterer Räume, die allesamt klein und leer waren, bis Lobsang plötzlich stehenblieb und konzentriert auf ein schmales Wandgemälde blickte, das sich dicht unter der Decke des Raumes entlangzog. Für Indiana waren es nichts als Bilder des religiösen Lebens innerhalb des Klosters, wie sie überall hier zu sehen gewesen waren, aber für Lobsang schienen sie eine geheime Botschaft zu enthalten, denn er blickte eine ganze Weile darauf, ehe er sich mit einem Ruck wieder umwandte.
«Ich weiß jetzt, wo der Fluchtweg ist«, sagte er und deutete mit der Hand zur Decke hinauf.»Folgt mir — rasch!«
Als sie die Halle abermals durchquerten und sich der Treppe näherten, erbebte die Tür unter einem Schlag, der ihre rechte Hälfte vom Boden bis zur Decke spaltete. Noch wenige Augenblicke, dachte Indiana, und sie würden sehen, vor wem Dzo-Lins Soldaten in so panischer Hast geflohen waren.
Was das anging, irrte sich Indiana Jones. Er sah sie schon sehr viel eher …
Als sie das Ende der Treppe erreichten, schrie der Ninja neben ihm plötzlich auf und stürzte rücklings die Treppe herab.
Wie aus dem Boden gewachsen erschien eine Gestalt vor Indiana.
Was ihm das Leben rettete, war vielleicht einzig und allein die Tatsache, daß der Bursche vor ihm genauso überrascht war wie er selbst. Er kannte den Mann nämlich — und dieser ihn ebenso. Als sie sich das letzte Mal begegnet waren, da war das auf der anderen Seite der Welt gewesen, und der Bursche hatte einen maßgeschneiderten Anzug und Lackschuhe getragen, statt eines knöchellangen Mantels und einer pelzgefütterten Mütze. Aber das Gesicht darunter war dasselbe, mit dem Tamara die Straße hinter dem Washington Museum aufgewischt hatte; einige der Schrammen und Kratzer, die es davongetragen hatte, waren noch nicht verheilt, und der Zorn, der jäh in den dunklen Augen aufflammte, bewies Indiana, daß auch der andere sich noch sehr gut an ihr letztes Zusammentreffen erinnerte.
Die Erkenntnis, daß der Bursche nicht nur äußerst grob, sondern vielleicht auch nachtragend war, kam einen Sekundenbruchteil zu spät. Indiana duckte sich instinktiv, und ebenso instinktiv fiel seine rechte Hand auf den Griff der Peitsche herab, die er am Gürtel trug, aber beide Bewegungen waren nicht schnell genug. Die Hände des Kerls zuckten vor, packten seinen Hals und schnürten ihm unbarmherzig die Luft ab. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem hämischen, zahnlückigen Grinsen.
Indiana hörte Schreie hinter sich, das Klirren von Stahl, dumpfe Schläge und einen einzelnen, lang nachhallenden Gewehrschuß und begriff, daß er nicht auf Hilfe der anderen rechnen durfte. Offensichtlich hatten die Angreifer einen anderen Weg ins Haus gefunden und die Tür wohl nur weiter bestürmt, um sie abzulenken — was ihnen ja auch gelungen war. Er warf sich zurück, trat dem Riesen vor die Knie und riß mit aller Gewalt die verschränkten Hände in die Höhe, um seinen mörderischen Würgegriff zu sprengen.
Fast zu seiner eigenen Überraschung gelang es ihm sogar. Die Arme des Burschen wurden hochgeschleudert, und Indiana setzte sofort einen Faustschlag auf seine Kinnspitze nach.
Erst als es bereits zu spät war, erinnerte er sich, daß er damit schon einmal sehr wenig Erfolg gehabt hatte. Der Riese nahm den Schlag ungerührt hin, und fast in der gleichen Sekunde klatschten seine flachen Hände mit furchtbarer Wucht auf Indianas Ohren.
Sein Schädel schien sich in das Innere einer Glocke zu verwandeln, in dem ein Klöppel von der Größe der Freiheitsstatue Alarm schlug. Er taumelte, fühlte sich abermals gepackt und hochgerissen. Alles begann vor seinen Augen zu verschwimmen, und er hörte ein dumpfes, immer lauter werdendes Dröhnen und Rauschen im Rhythmus seines eigenen Herzschlages.
Es war das zweite Mal, daß er mit diesem Burschen aneinandergeriet, und das zweite Mal, daß er nicht mit ihm fertig wurde.
Der tödliche Klammergriff um seinen Hals lockerte sich plötzlich. Indiana taumelte zurück, fand irgendwo Halt und blinzelte ein paarmal, um die roten Schlieren vor seinen Augen zu vertreiben. Seine Kehle schmerzte unerträglich, und sein Herz raste, als wolle es jeden Moment zerspringen. Wie durch dichten Nebel hindurch sah er den Mongolen, der sich plötzlich vier oder fünf Meter entfernt in einer Ecke hochrappelte und mit verblüfftem Gesichtsausdruck nach dem Tornado Ausschau hielt, der ihn von den Füßen gefegt hatte.
Indiana wartete nicht ab, bis er das kaum ein Meter sechzig große, in eine braune Kutte gehüllte, tibetische Äquivalent eines Wirbelsturmes als jene unsichtbare Kraft ausgemacht hatte, sondern rannte mit weit ausgreifenden Schritten auf den Mongolen zu und versetzte ihm einen Tritt unter das Kinn, der ihn in die Höhe riß und seinen Kopf unsanft mit der Wand hinter sich kollidieren ließ; was vielleicht nicht besonders fair, aber wirkungsvoll war.
Normalerweise, jedenfalls.
Es war unglaublich — aber der Bursche steckte sogar das weg.
Zwar fiel er auf die Knie herab und schüttelte einen Moment benommen den Kopf, begann sich aber sofort wieder hochzustemmen! Indiana packte ihn, hämmerte ihm vier-, fünf-, sechsmal hintereinander mit aller Kraft die Faust in den Leib, ergriff ihn dann bei den Schultern und stieß ihn mit aller Gewalt an sich vorbei. Der Riese torkelte, riß die Arme in die Höhe, um sein Gleichgewicht zu halten — und trat plötzlich ins Leere. Mit einem gellenden Schrei polterte er die Treppe herunter und blieb benommen liegen. Indiana zerrte seine Peitsche vom Gürtel und sah sich wild um. Der Riesenkerl schien der einzige gewesen zu sein, der hier oben auf sie gewartet hatte — aber am Fuße der Treppe war ein wütendes Handgemenge im Gange, in dem sich Moto, Hondo und die drei anderen Japaner mit einer zahlenmäßig weit überlegenen Gruppe von Angreifern herumschlugen. Trotzdem sah es nicht so aus, als brauchten sie Hilfe. Was Moto mit seinem Schwert anzurichten imstande war, hatte Indiana ja schon gesehen, und auch Hondo trug die Klinge offensichtlich nicht nur, weil sie zu seiner Uniform gehörte. Vier oder fünf der Angreifer lagen bereits blutend am Boden, und auch der Rest stand buchstäblich mit dem Rücken zur Wand, denn auch die drei Soldaten hatten sich offensichtlich nicht nur in die klassische Kleidung der Ninjas gehüllt, weil ihnen die schwarze Farbe so gut stand.