Indiana nahm sich die Zeit, die Angreifer einige Augenblicke lang in aller Ruhe zu betrachten. Was er sah, das war erschrek-kend und verwirrend zugleich. Der Mann, der hier oben auf sie gewartet hatte, war nicht der einzige, der sich wie einer von Attilas Hunnenreitern gekleidet hatte. Die Männer trugen lange, bunt bestickte Mäntel aus Wolle und Fell, dazu Mützen und Hüte aus dichtem Pelz. Bewaffnet waren sie mit Krummsäbeln und kurzen Äxten. Einige Schritte abseits hatten zwei Bogenschützen Aufstellung genommen, die ihre Pfeile vergebens auf ein sicheres Ziel zu richten versuchten. Moto und die vier anderen bewegten sich so schnell, daß sie es nicht wagen konnten, ihre Waffen abzufeuern, ohne Gefahr zu laufen, einen ihrer eigenen Männer zu treffen.
Den Fehler in dieser Überlegung begriff Indiana erst, als es zu spät war. Einer der Bogenschützen fuhr plötzlich herum und ließ seinen Pfeil fliegen, und er spürte, noch während er es tat, daß er sich viel zu langsam zur Seite fallen ließ.
Und plötzlich war etwas vor seinem Gesicht: Lobsangs Hand, die sich in einen rasend schnellen Schatten verwandelt hatte. Den Bruchteil einer Sekunde später weiteten sich Indianas Augen vor Entsetzen und Unglauben, als er den Pfeil sah, den der Tibeter aufgefangen hatte. Die Spitze war kaum noch zehn Zentimeter von seinen Augen entfernt.
Die Bogenschützen kamen nicht dazu, ihr Glück ein zweites Mal zu versuchen, denn Moto hatte die Spielereien mittlerweile wohl gänzlich satt. Mit einem zornigen Schrei schwang er sein Samurai-Schwert hoch über den Kopf, verschaffte sich mit einem blitzartigen Hieb Luft und ließ die Waffe fallen, um in der gleichen Bewegung seine Maschinenpistole zu heben.
Ein kurzer, abgehackter Feuerstoß fegte die Hälfte der Angreifer samt der beiden Bogenschützen zu Boden, der Rest fiel binnen weniger Augenblicke Hondo und seinen Ninjas zum Opfer.
Moto hob den Kopf und sah zu Indiana hinauf.»Sind Sie in Ordnung, Dr. Jones?«
Indiana nickte.
«Gehen Sie mit Lobsang und suchen Sie den Ausgang!«rief Moto. Er bückte sich, hob sein Schwert auf und deutete mit der Klinge auf die Tür, die immer heftiger unter den Schlägen der Angreifer erbebte.»Wir halten sie auf, solange wir können. Beeilen Sie sich!«
Indiana tat, was Moto ihm geraten hatte. Zwei Schritte hinter Lobsang stürmte er den Gang hinauf und durch einen verwaisten Schlafsaal in einen kleinen Raum mit einer Kuppeldecke, den sie schon einmal und vergeblich durchsucht hatten. Auf einem Podest vor seiner Rückwand hockte eine Buddha-Statue von halber Lebensgröße. Lobsang eilte auf die Figur zu, blieb einige Sekunden lang reglos stehen und betrachtete sie sehr aufmerksam, dann streckte er die Hand aus und rüttelte sanft an der linken Schulter des Buddha. Das Knirschen von Stein war zu hören, und die Figur, die sicherlich eine halbe Tonne wiegen mußte, bewegte sich fast elegant zur Seite. Dahinter kam ein halbrunder, finsterer Durchgang zum Vorschein.
Lobsang lächelte Indiana triumphierend zu, ließ sich auf die Knie herab und wollte durch die Öffnung kriechen, aber Indy hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.»Warte!«
Der Tibeter war verwirrt, wie sein Gesichtsausdruck verriet, aber er gehorchte. Vorsichtig kroch er ein kurzes Stück zurück und richtete sich auf, um Indiana Platz zu machen.
Indy trat neben ihn, kniete aber nicht nieder, sondern deutete mit der Hand auf die Kratzer, die der Buddha bei seiner Seitwärtsbewegung im Boden hinterlassen hatte. Die meisten dieser Spuren waren uralt, aber einige waren auch sehr frisch. Und es waren mindestens zwei Spuren. Die Figur war schon einmal bewegt worden, vor nicht allzu langer Zeit.
Indiana ließ sich behutsam auf Hände und Knie herab und versuchte, die Dunkelheit hinter dem Durchgang mit Blicken zu durchdringen. Ein nutzloses Unterfangen. Aber wieder einmal meldete sich sein sechster Sinn, der ihm schon mehr als einmal das Leben gerettet hatte.
«Eine Lampe!«flüsterte er.»Bring’ eine Lampe oder eine Fackel — irgend etwas.«
Lobsang verschwand hastig, und Indiana drehte sich wieder um und starrte in die Dunkelheit hinein. Ein sanfter Luftzug berührte sein Gesicht, und auch er verriet ihm, daß sie nicht die ersten waren, die diesen Geheimgang benutzten, denn er roch nicht nur nach Alter und Staub, sondern auch nach Menschen, Metall und Pulver … Wahrscheinlich hatten Dzo-Lin und seine Soldaten genau diesen Gang benutzt, um sich vor den heranrückenden Hunnen-Horden in Sicherheit zu bringen.
Lobsang kam zurück, eine rußende Petroleumlampe in der Hand. Indiana nahm sie ihm ab, hielt sie am ausgestreckten Arm vor sich und betrachtete den Gang hinter der Öffnung in dem gelben, flackernden Licht.
Auf den ersten Blick bemerkte er absolut nichts Gefährliches.
Der Raum erweiterte sich hinter dem Durchgang zu einer etwa anderthalb Meter hohen und doppelt so breiten Höhle, die vollkommen leer war. Der Boden bestand aus Stein, so daß er keine Spuren entdecken konnte. In der gegenüberliegenden Wand befand sich ein knapp meterhoher, halbrunder Durchgang, der jedoch von einer massiven Metallplatte verschlossen war. Rechts und links von ihr ragten zwei wuchtige Hebel aus der Wand.
Und kaum fünf Zentimeter vor Indianas linker Hand, mit der er sein Körpergewicht abstützte, spannte sich ein haarfeiner Draht.
Indianas Herz machte einen erschrockenen Hüpfer. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, den Sinn dieses Drahtes zu erraten. Unendlich behutsam beugte er sich vor, sah nach rechts — nichts — und dann nach links. Der Draht war an einem hastig in die Wand geschlagenen Nagel befestigt, und sein Ende war um den Ring einer Handgranate geknotet.
Vorsichtig kroch er wieder zurück und richtete sich auf.
«Zwei Hebel«, sagte er und hob Zeige- und Mittelfinger vor Lobsangs Gesicht.»Und eine kleine Überraschung von Dzo-Lin. Aber damit werde ich fertig.«
«Welche Farbe haben sie?«fragte Lobsang.
Indiana überlegte einen Moment, schüttelte aber dann den Kopf. Er hatte nicht auf die Farbe geachtet.
«Einer müßte rot sein und einer blau«, sagte Lobsang.»Ziehen Sie den roten herunter. Um Gottes willen nicht den blauen. Es wäre unser aller Untergang.«
Indiana nickte, machte aber keine Anstalten, noch einmal zurückzukriechen, sondern deutete in den angrenzenden Raum hinaus.»Warte hier«, sagte er.»Ich hole die anderen.
Und geh’ auf keinen Fall dort hinein.«
Er überzeugte sich mit einem Blick davon, daß Lobsang seine Warnung verstanden hatte und ernstnahm, dann rannte er auf den Gang und zur Treppe zurück.
Wie sich zeigte, waren seine Befürchtungen nur zu berechtigt gewesen. Moto und die anderen kamen ihm entgegen, lange bevor er die Treppe erreichte, und hinter ihnen stürmte etwas heran, was nun wirklich an Dschingis Khans Horden erinnerte — Dutzende von schwert- und äxteschwingenden Männern in bunt bestickten Wollmänteln, die gellende Kriegsrufe ausstießen. Hondo und die drei Ninjas feuerten mit ihren Maschinenpistolen auf sie und streckten zehn oder fünfzehn mit einer einzigen Salve nieder, aber die anderen rannten unbeeindruckt weiter. Wie alle Fanatiker schienen sie den Tod nicht zu fürchten, sondern geradezu zu suchen.
«Moto!«brüllte Indiana.»Wir haben den Gang!«
Moto, der seine MP in der linken und sein Samurai-Schwert in der rechten Hand schwang, warf nur einen raschen Blick über die Schulter zu Indiana zurück, dann gab er einen kurzen Feuerstoß aus seiner Waffe ab, schrie einen Befehl auf japanisch und wandte sich um. Hondo tat es ihm gleich, während die drei Ninjas sich den heranstürmenden Hunnen entgegenwarfen. Indiana sah, daß es ihnen tatsächlich gelang, die Angreifer für einen Moment aufzuhalten. Aber eben nur für einen Moment.