«Wir müssen raus hier«, sagte er hastig. Moto fuhr herum und starrte ihn an, sagte aber nichts, als sein Blick dem Indianas folgte und er sah, was mit der Wand hinter ihnen geschah.
Der Regen niederstürzender Kieselsteine und Felsen auf der anderen Seite der Tür hatte nachgelassen, jedoch nicht ganz aufgehört. Indiana wurde zwei-, dreimal hintereinander an Schultern und Brust getroffen, ehe er den Schild eines erschlagenen Hunnen aufhob und schützend über den Kopf hob. Moto und die beiden anderen machten es ihm nach, so daß sie, zwar allesamt grün- und blaugeschlagen, aber ohne schwere Verletzungen, den Flur draußen erreichten.
Von den Angreifern war keine Spur mehr zu sehen — aber das wunderte Indiana eigentlich nicht besonders, denn von links wälzte sich eine dröhnende Steinlawine heran, unter deren Gewicht das ganze Kloster zu erbeben schien. Sie bewegte sich nicht sehr schnell, aber unaufhaltsam.
Als sie die Treppe erreichten, bot sich ihnen ein furchtbarer Anblick. Die Tür war aufgebrochen, und zahllose Mongolen waren ins Innere des Klosters gestürmt. Die Hälfte von ihnen mußte bereits tot oder schwer verletzt sein, und der Rest versuchte verzweifelt, sich vor dem Hagel aus Steinen in Sicherheit zu bringen, der aus einem Dutzend Richtungen gleichzeitig herabprasselte. Wie Wasser aus der geborstenen Mauer eines Staudammes schossen Fontänen aus Kieselsteinen aus einem Dutzend gewaltiger Löcher in der Wand, so daß der Boden bereits kniehoch mit einer Schicht aus Kieseln bedeckt war, die sich träge wie Lava über die Toten hinweg und durch die eingeschlagene Tür nach draußen wälzte. Selbst die Treppe spie Steine: Zwei Stufen waren verschwunden und ein Teil des Geländers eingebrochen. Und Indiana sah auch gleich, daß die Anordnung dieser tödlichen Geysire keineswegs Zufall war. Es gab drei, vier armdicke Strahlen aus Kieseln, deren Wucht so groß war, daß sie die Wände, gegen die sie prallten, einfach durchschlagen hatten, und die sich so überkreuzten, daß der Weg über die Treppe völlig unmöglich geworden war.
Verzweifelt warf er einen Blick über die Schulter zurück. Die Steinlawine hinter ihnen war nähergekommen. Sie bewegte sich nicht sehr schnell, aber die rollenden Kiesel mußten alles zermalmen, was ihnen in den Weg geriet.
Sein Blick suchte die Decke der Halle ab. Auch sie war an zwei oder drei Stellen aufgerissen, aber der tödliche Regen von oben hatte bereits aufgehört. Indianas Blick glitt über einen der gewaltigen Balken, die die Decke trugen. Seine Hand löste die Peitsche vom Gürtel. Mit einem einzigen, kraftvollen Schwung ließ er die Schnur sausen. Ihr Ende wickelte sich um den Balken und saß fest. Indiana zerrte noch einmal prüfend daran und versuchte dann, die Entfernung von dort bis zur Tür abzuschätzen.
«Was haben Sie vor?«fragte Moto neben ihm nervös.
Statt zu antworten, streckte Indiana die Hand nach Lobsang aus, umschlang seine schmale Hüfte mit dem Arm — und stieß sich mit aller Kraft ab.
Lobsang schrie vor Schrecken auf und begann in seiner Umarmung so heftig zu zappeln, daß er ihn um ein Haar losgelassen hätte, als sie plötzlich scheinbar schwerelos durch die Luft flogen. Sie passierten einen der tödlichen Steinstrahlen in so geringer Entfernung, daß Indiana eine Reihe harter, schmerzhafter Schläge gegen das rechte Bein und den Fuß verspürte, dann erreichten sie den gewaltigen Sims über der Tür. Indiana brachte das Kunststück fertig, sich daran festzuklammern, ohne Lobsang oder die Peitsche loszulassen.
«Festhalten!«schrie er, löste seinen Arm von Lobsangs Hüfte und stieß sich abermals mit aller Kraft ab. Während sich Lobsang verzweifelt an der rauhen Wand über der Tür festzu-krallen versuchte, flog Indiana am Ende der Peitschenschnur zurück und landete einen halben Schritt neben Moto auf der Treppe. Er sagte kein Wort, sondern streckte nur einladend den Arm aus.
Moto zögerte. Vielleicht traute er Indiana nicht, vielleicht dachte er auch nur daran, daß er gut doppelt so schwer wie der kleine Tibeter war. Aber dann polterte etwas über ihm, und Indiana erkannte voller Entsetzen, daß die Steinlawine die obersten Stufen der Treppe erreicht hatte und sich in die Tiefe zu wälzen begann. Moto zögerte nicht länger, sondern trat an ihn heran, ließ es zu, daß Indiana ihn mit dem Arm umschlang, und klammerte sich seinerseits an ihn, und abermals stieß sich Indiana ab und segelte quer durch den Raum.
Seine Kräfte drohten nachzulassen. Motos Gewicht zerrte wie eine Tonnenlast an seinem Arm, und er spürte, daß er einfach nicht mehr die Kraft hatte, dieses Kunststück noch zweimal zu wiederholen, um auch Hondo und den Ninja zu retten, als er neben Lobsang auf dem steinernen Sims über der Tür ankam.
Aber es war auch gar nicht nötig. Der Ninja hatte ein langes, mit einem Widerhaken versehenes Seil vom Gürtel gelöst, schwang es über dem Kopf und schleuderte es dann nach dem gleichen Balken, auf den auch Indiana mit der Peitsche gezielt hatte. Der stählerne Haken bohrte sich tief in das Holz, und fast im gleichen Sekundenbruchteil packte der Ninja Major Hondo, klemmte ihn sich wie ein Kind unter den Arm und legte den Weg auf die gleiche Weise wie Indiana vor ihm zurück.
Der Platz auf dem schmalen Sims wurde allmählich eng. Indiana sah sich wild um und spielte mit dem Gedanken, sich einfach fallenzulassen, um sich von der Steinlawine aus dem Haus tragen zu lassen, verwarf ihn aber sofort wieder, als er auf das brodelnde Chaos unter sich blickte. Die Felsen rasten so schnell wie kochendes Wasser durch die Tür, aber es war eben kein Wasser. Was immer in diese Hölle geriet, mußte binnen Sekunden zermalmt und zerfetzt werden. Die Schicht war jetzt gute anderthalb Meter hoch und wuchs immer weiter. Von den Hunnen, die in den Tempel eingedrungen waren, war kein einziger mehr am Leben.
Indiana richtete sich auf, preßte sich mit dem Rücken eng gegen die Wand und sah sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um, entdeckte aber keinen. Es sah aus, als hätten sie nur eine kurze Gnadenfrist herausgeschunden. Wenn der Nachschub an Kieseln und Geröll nicht nachließ, so würde sich die Halle binnen Minuten bis unter die Decke gefüllt haben, und sie hatten allerhöchstens noch die Wahl, zu ersticken oder zerquetscht zu werden.
Das ganze Gebäude begann jetzt unter ihren Füßen zu wanken. Die Wand hinter ihnen ächzte unter dem Gewicht der Steine, die von innen gegen sie drückten, und vom Hof drang ein Chor gellender, entsetzter Schreie herein. Vermutlich waren auch dort draußen überall Springbrunnen und Geysire aus Kieseln entstanden, die hundertmal tödlicher sein mußten als die Fallen, die Dzo-Lin hinterlassen hatte.
Erst jetzt fiel ihm auf, daß der Sims, auf den sie sich gerettet hatten, zu einem überlebensgroßen Buddha-Relief gehörte, das in die Wand über der Tür eingelassen war. Es bestand aus Metall, nicht aus Stein, und ganz offensichtlich war sein Gewicht für die ohnehin überbeanspruchte Mauerkonstruktion einfach zuviel, denn längs seiner Konturen hatten sich haarfeine, tiefe Risse gebildet, die rasch breiter wurden. Langsam begann sich die Buddha-Figur nach vorn zu neigen, als wollte sie die frechen Frevler, die es gewagt hatten, das Heiligtum zu entweihen, mit einer einzigen Bewegung abschütteln.
«Lobsang! — « brüllte Indiana verzweifelt. »Tu etwas!«
Er war nicht einmal sicher, ob seine Worte nicht im Krachen und Dröhnen der Steine einfach untergingen, ehe sie den Tibeter erreichten. Aber er spürte, wie das Buddha-Relief heftiger zu zittern begann — und sich dann mit einem furchtbaren Knirschen ganz aus der Wand löste und herabstürzte.
Nach außen, nicht nach innen.
Krachend und berstend durchbrach das tonnenschwere Reliefbild die Wand, prallte auf der Oberfläche des Kieselsteinstromes auf und begann zu rutschen. Indiana und die anderen klammerten sich verzweifelt daran fest, während das Bild schneller und schneller über den Hof zu schießen begann, vorangetragen von einer Springflut aus Kieselsteinen, die sich nicht nur aus der Tür, sondern aus zahllosen, jäh entstandenen Öffnungen in der Tempelwand auf den Innenhof ergoß und alles zermalmt hatte, was sich darin befand. Indiana wartete verzweifelt darauf, daß seine Geschwindigkeit abnahm, so daß sie abspringen oder nach einem sicheren Halt ausschauen konnten, aber ihr bizarres Fahrzeug wurde im Gegenteil immer schneller — und schoß geradewegs auf das Tor in der Tempelmauer zu.