Das Tor war bei weitem nicht breit genug, um den Buddha durchzulassen, aber es war auch nicht massiv genug, um ihn aufzuhalten. Mit einem ungeheuren Krachen durchbrach das Standbild die Mauer, schrammte funkensprühend an der Felswand dahinter entlang und wurde immer noch schneller und schneller, während es auf den schmalen Saumpfad in der Felswand hinausschoß. Die Steinlawine polterte vor ihnen her, und vor dieser wiederum rannte ein halbes Hundert verzweifelter Hunnen talwärts.
Keiner von ihnen schaffte es. Eine Anzahl der Männer, die die Steinlawine und den metallenen Buddha mit seinen fünf Reitern heranrasen sahen, zog es vor, sich selbst in die Tiefe zu stürzen, der Rest wurde von der riesigen Statue überrollt.
Indiana klammerte sich mit verzweifelter Kraft an den geschmiedeten Zehennägeln des Buddha fest. Rechts von ihm schlug das Metall noch immer Funken aus der Wand, auf der anderen Seite gähnte ein drei- oder auch vierhundert Meter tiefer Abgrund — und kaum hundert Meter vor ihnen knickte der Weg jäh ab.
Indiana blieb kaum Zeit, den Schrecken zu verarbeiten, den ihm dieser Anblick bereitete, als sie das Ende des Weges auch schon erreicht hatten und der Buddha wie ein flachgeworfener Stein ins Leere flog.
Eine endlose Sekunde lang war nichts anderes als Dunkelheit unter ihnen, dann prallte das Relief mit einem fürchterlichen Schlag gegen den Fels — und verkantete sich.
Es dauerte gut dreißig Sekunden, bis Indiana begriff, daß sie nicht abgestürzt waren, und noch einmal genauso lange, bis er es wagte, erleichtert aufzuatmen und die Augen zu schließen.
In der nächsten Sekunde war er nicht mehr so überzeugt davon, daß das wirklich eine gute Idee gewesen war.
Die Buddha-Statue hatte sich wie eine zu groß geratene Ausfertigung von Motos Shuriken waagerecht in den Felsen hineingefressen. Unter ihnen gähnte nichts als schwarze Leere. Und der Felsen, in den der Buddha den Kopf und die rechte Schulter gerammt hatte, war so glatt und fugenlos, daß Indiana den Gedanken, daran herabzusteigen, ebenso schnell wieder verwarf, wie er ihm gekommen war.
Unendlich vorsichtig richtete er sich auf Hände und Knie auf und sah sich um. Lobsang, Moto und der letzte überlebende Ninja klammerten sich ebenso verzweifelt wie er an den diversen hervorstehenden Körperteilen des Buddha fest. Von Hondo war keine Spur mehr zu sehen.
Indiana richtete sich weiter auf, ließ vorsichtig Buddhas Zehennägel los und versuchte, zu dem Tibeter hinüberzukrie-chen. Er gab dieses Unternehmen allerdings hastig wieder auf, als die Statue unter ihm spürbar zu zittern begann.
«Bewegen Sie sich nicht, Sie Narr!«sagte Moto erschrocken.
Indiana erstarrte befehlsmäßig zur Salzsäule, aber das nutzte nicht allzuviel. Der Buddha zitterte und wankte weiter — und dann hörte Indiana ein Knirschen, das ihm schier das Blut in den Adern gerinnen ließ. Entsetzt sah er sich um — und schrie nun wirklich vor Schrecken auf.
Die Buddha-Statue hatte sich so tief in den Felsen gebohrt, daß vermutlich keine Macht der Welt sie wieder herausziehen konnte. Aber so groß das Relief auch war, so dünn war es auch.
Das Eisen begann sich zu biegen. Langsam, aber mit einer schrecklichen Beharrlichkeit begannen sich die untergeschlagenen Beine Buddhas dem Boden entgegenzuneigen. Das Knirschen und Mahlen hielt an, und aus dem zeitlosen Lächeln der Buddha-Statue schien ein hämisches Grinsen zu werden, denn der Knick in der bearbeiteten Eisenplatte lief genau zwischen seiner Ober- und Unterlippe hindurch.
Indiana überlegte fieberhaft. Die Neigung der Metallplatte war jetzt so stark, daß er schon fast auf den Zehenspitzen der Figur stand, und die Platte senkte sich immer weiter. Er hatte eine verzweifelte Idee. Mit klopfendem Herzen ließ er sich in die Hocke sinken, klammerte sich mit der rechten Hand fest an seinen unsicheren Halt und streckte die andere nach Moto aus.
«Ihr Schwert!«sagte er herrisch.»Schnell!«
Gottlob verschwendete Moto keine Zeit damit, irgendwelche überflüssigen Fragen zu stellen, sondern zog das SamuraiSchwert aus dem Gürtel und reichte es Indiana. Indy schnitt sich schmerzhaft in die Finger, als er die rasiermesserscharfe Klinge berührte, unterdrückte aber jeden Laut, sondern ließ sich weiter herab und zur Seite gleiten, bis er mit der Hand, die das Schwert hielt, unter die Kante der Buddha-Statue greifen konnte. Der abgeknickte Teil des Reliefs hing jetzt schon beinahe waagerecht, so daß der Raum zwischen seiner Rückseite und der Felswand kaum noch ausreichte, das Schwert hineinzuzwängen. Indiana bohrte die Spitze der Klinge in den Fels so gut er konnte, rammte ihren Griff unter das Eisen und betete, daß der Stahl eines Samurai-Schwertes wirklich so gut war wie im allgemeinen behauptet wurde.
Mit einem fürchterlichen Knirschen und Mahlen kam die Eisenplatte zur Ruhe. Einen Moment lang zitterte sie noch, und vor Indianas Augen entstand das furchtbare Bild eines Samurai-Schwertes, das sich wie ein Bambusstab immer weiter durchbog, bis es einfach zersplitterte.
Aber das Schwert hielt. In einem Winkel von vielleicht fünfundvierzig Grad kam die abgeknickte Hälfte des Reliefs zum Stehen.
Indiana richtete sich Millimeter für Millimeter auf, drehte sich herum und preßte sich fest mit dem Rücken gegen das Metall der Buddha-Statue, ehe er es wagte, erleichtert aufzuatmen.
Der Wind zerrte an seiner Gestalt, und die Kälte war schon jetzt so empfindlich zu spüren, daß seine Finger und Zehenspitzen taub zu werden begannen.
Er fragte sich, wie um alles in der Welt sie mehr als eine Stunde hier oben durchhalten sollten, bis Hondos Flugzeuge kamen.
Sie hielten sie durch. Die Flugzeuge kamen sogar früher als vereinbart, aber Indiana vermutete zurecht, daß dies das erste Mal war, daß sich Moto über eine Unpünktlichkeit seiner Soldaten freute.
Allerdings dauerte es danach noch einmal gute zwei Stunden, bis eine Abteilung japanischer Pioniere auf der Felsenkrone hundert Meter über ihnen erschien und sich zu ihnen abseilte, um sie aus ihrer mißlichen Lage zu befreien.
Huehot. Später am gleichen Tag
Das Lager verdiente eigentlich nicht den Namen» Stützpunkt«, denn es bestand nur aus einer Handvoll ärmlicher Hütten, in denen vor dem Einmarsch der Japaner vermutlich nur ein paar Bergbauern gehaust hatten; und selbst diese nicht sonderlich komfortabel. Aber es verfügte über zwei entscheidende Vorzüge: über ein Funkgerät und eine kleine, aber für die wendigen japanischen Zeros ausreichende Landebahn.
Moto hatte Indiana und Lobsang getrennt unterbringen lassen, und er machte nun überhaupt keinen Hehl mehr daraus, daß sie seine Gefangenen waren. Sie wurden zwar nicht gefesselt, aber vor der Tür von Indianas Hütte hielten zwei bewaffnete Posten Wache, die seinen ersten und einzigen Versuch, sein Gefängnis zu verlassen, ziemlich grob vereitelten.
Erst spät am Nachmittag wurde er wieder zu Moto gebracht.
Der Samurai hatte das größte Gebäude zu seinem Quartier deklariert und dessen bisherige Bewohner samt der Möblierung hinausgeworfen. Im Raum befanden sich jetzt nur noch ein Tisch sowie zwei unbequem aussehende, dreibeinige Hocker.
Auf einem davon saß Moto selbst, auf dem anderen hatte er das Funkgerät aufstellen lassen. Als Indiana — die Spitzen der Bajonette seiner beiden Bewacher im Rücken — durch die Tür stolperte, zog er sich gerade die Kopfhörer von den Ohren und funkelte das Gerät an, als gäbe er ihm die Schuld an dem, was geschehen war.
Sein Gesichtsausdruck war allerdings alles, was an dem Japaner an die überstandenen Strapazen erinnerte. Moto trug jetzt wieder seine blütenweiße Paradeuniform. Die Kratzer und Blessuren, die er davongetragen hatte, waren verschwunden; ärztlich versorgt und ganz offensichtlich überschminkt, was Indiana einigermaßen überraschte. Daß Moto eitel war, hatte er bisher gar nicht bemerkt.