«Sie sind zornig auf mich, Dr. Jones, nicht wahr?«
Indiana ließ fast eine Minute verstreichen, ehe er auch nur den Kopf wandte, um Lobsang anzusehen. Der Tibeter hockte zusammengekauert neben dem Kohleofen. Es gab kein Licht hier drinnen, und im blassen Grau der einsetzenden Dämmerung wirkte sein Gesicht noch schmaler und älter als sonst.
Der Anblick ließ Indiana die Kälte, die mit dem Abend durch die dünnen Wände gekrochen war, erst richtig fühlen. Er stand auf, ging zu Lobsang hinüber und kauerte sich dicht neben ihm auf den Boden. Der Ofen wärmte seine rechte Seite und die Hände, die er dagegen ausstreckte, aber der Rest seines Körpers schien den eisigen Biß der Zugluft nur umso heftiger zu spüren.
«Nein«, antwortete er mit einiger Verspätung und sehr leise.
«Nicht zornig. Enttäuscht. Du hättest mir die Wahrheit sagen können.«
«Das Schwert des Dschingis Khan — «
«Verdammt, euer dämliches Schwert interessiert mich überhaupt nicht!«fuhr Indiana auf.»Glaubst du wirklich, ich würde es an mich bringen, um Macht über ein paar Stämme von Hunnenreitern zu gewinnen?«
Er las in Lobsangs Gesicht, wie sehr diesen seine Worte verletzten, aber er tat nichts, um sie zurückzunehmen oder abzumildern. Entgegen seiner eigenen Behauptung war er sehr wohl wütend auf Lobsang, wenn auch vermutlich aus anderen Gründen, als dieser annehmen mochte.
«Wer bist du wirklich, Lobsang?«fragte er.»Du und Tsangpo — ihr seid doch nicht zufällig in Schenjang aufgetaucht, oder?«
Jetzt war es Lobsang, der eine ganze Weile zögerte zu antworten. Als er schließlich nickte, war die Bewegung nur angedeutet; Indiana erriet sie im schwachen Licht mehr als er sie sah.
«Mein Bruder und ich wurden ausgeschickt, jede Expedition nach Shambala zu verhindern«, sagte er traurig.»Aber wir haben versagt.«
«Das habt ihr!«bestätigte Indiana, dem es plötzlich eine diabolische Befriedigung bereitete, das Messer in der offenen Wunde auch noch herumzudrehen.»Es wäre besser gewesen, ihr wärt gar nicht hier aufgetaucht! Was zum Teufel habt ihr euch dabei gedacht?«Er machte eine heftige Geste mit beiden Händen.»Die Japaner sind doch keine Kinder, die sich an der Nase herumführen lassen! Und was ist mit diesen … diesen Hunnen? Gehören sie auch zu euch?«
Eine verunglückte Mischung aus einem Nicken und einem Kopfschütteln war die Antwort.»Sie kämpfen für die gleiche Sache«, räumte er ein,»aber sie gehen den falschen Weg. Aus diesem Grund ging unser Bruder zu General Dzo-Lin, um ihn zu warnen. Nicht, um Moto zu verraten, sondern um Blutvergießen zu vermeiden.«
Indiana lachte humorlos.»Na ja, das ist ihnen ja auch gelungen«, sagte er.»Jedenfalls wurde kein chinesisches Blut vergossen. Dafür eine ganze Menge von ihrem eigenen.«
«Was geschehen ist, tut mir unendlich leid«, sagte Lobsang, und so, wie er es sagte, hörte es sich durchaus ehrlich an.
«Und es wird Ihnen noch sehr viel mehr leid tun, wenn Moto mit dem Schwert zurückkommt«, grollte Indiana.
«Das wird nicht geschehen«, behauptete Lobsang.
«Hör’ auf«, bat Indiana müde.»Ich habe dich beobachtet, als Moto dir die Karte gezeigt hat. Shambala liegt genau dort, wo er es vermutet, nicht wahr?«
Lobsang druckste eine Weile herum, aber schließlich rang er sich zu einem angedeuteten Nicken durch. Fast gleichzeitig schüttelte er aber auch schon wieder den Kopf.»Striche auf Papier«, sagte er.»Punkte auf einer Karte, die nichts bedeuten.«
Er lächelte mit gezwungenem Optimismus.»Das Kloster liegt in mehr als fünftausend Metern Höhe hinter einem Eisfeld, auf dem eure schnellen Holzvögel nicht landen können. Und selbst wenn sie es könnten — es gibt Festungen, die mit Waffen allein nicht gestürmt werden können. Das Schwert ist sicher.«
Aber Indiana spürte, daß er den letzten Satz nur aus einem einzigen Grund sagte: um sich selbst zu beruhigen.
Es gab eine Menge Antworten auf Lobsangs Erklärungen, aber gleichzeitig wußte Indy, wie sinnlos jedes weitere Wort war. Der Tibeter war nicht einfach nur störrisch oder uneinsichtig. Ganz im Gegenteil. Was dem alten Mann zu schaffen machte, ihn bis an die Grenzen seiner Kräfte belastete, das war das allmähliche Begreifen, daß er vielleicht einen Fehler begangen hatte, daß die Dinge eben nicht immer so liefen, wie es das Schicksal vorausbestimmte, und daß es vielleicht Mächte gab, die einfach böse waren; und kein Gesetz der Menschen oder der Götter bestimmte, daß die Mächte des Guten ihnen immer und jederzeit überlegen sein mußten. Er begriff, daß er dem alten Mann einfach Zeit geben mußte, mit etwas fertig zu werden, das seine Kräfte vielleicht überstieg.
Müde stand er auf und trat an das schmale Fenster heran, und er hatte kaum einen Blick hinausgeworfen, als ihm klar wurde, daß sie diese Zeit vielleicht einfach nicht hatten.
Er konnte nur einen kleinen Teil des Militärlagers überblik-ken, das sich auf einem Berghang über der Stadt Huehot erstreckte, aber zu diesem kleinen Teil gehörte auch die improvisierte Start- und Landebahn. Zwei der gefürchteten japanischen Zeros standen ein Stück abseits des Rollfeldes, und ein Stück dahinter hatten einige Soldaten damit begonnen, eine etwas größere, bauchlastige Transportmaschine auf die Startbahn zu schieben, während andere Männer in einer schier endlosen Kette Benzinfässer herbeirollten. Moto hatte keine Zeit zu vergeuden. Unter Umständen war General Dzo-Lin bereits jetzt auf halbem Wege nach Shambala.
Eine geraume Weile verging, ehe Indiana klar wurde, daß das Beladen und Auftanken des Flugzeuges nicht den einzigen Quell von Hektik und Bewegung im Lager darstellte. In Anbetracht des beschränkten Platzes und der viel zu vielen Menschen, die sich darauf drängten, war es nicht leicht, Einzelheiten auszumachen; aber Indiana Jones war oft genug in Situationen wie dieser gewesen, um eine Gefahr zu spüren, die er vielleicht bewußt noch nicht erkennen konnte. Und hier spürte er sie sehr deutlich. Die Männer draußen bewegten sich eine Spur zu hastig, die Kommandos kamen eine Spur zu laut, die Reaktionen darauf eine Winzigkeit zu zackig. Er sah eine kleine Gruppe japanischer Soldaten, die ein Maschinengewehr samt Munitionskästen in großer Eile auf die andere Seite des Platzes schleppten, andere brachten etwas in Stellung, das Indiana nicht genau erkennen konnte, dessen Umriß aber eine unangenehme Ähnlichkeit mit einem Mörser oder Granatwerfer hatte. Ein Jeep fuhr vorbei und hielt mit quietschenden Bremsen direkt vor Motos Quartier. Zwei der drei Männer sprangen heraus, der dritte blieb im Wagen und legte beide Hände auf den Griff eines schweren Maschinengewehrs, das aus dem Heck herausragte. Seine Haltung verriet Anspannung.
Indiana blieb eine gute Viertelstunde am Fenster stehen und sah dem beunruhigenden Geschehen im Lager zu, ehe er endlich auf die Idee kam, sich mit einer entsprechenden Frage an Lobsang zu wenden.»Was hat der Soldat vorhin genau gesagt, als er hereinkam?«
Lobsang stand auf, trat neben ihn und blickte eine halbe Minute schweigend aus dem Fenster, ehe er antwortete.»Nur daß irgend etwas vorgeht.«
«Nach irgend etwas sieht das da draußen nicht aus«, sagte Indiana.
Lobsang nickte, enthielt sich aber jeder Antwort.
«Wir müssen raus hier«, sagte Indiana plötzlich. Er deutete auf das Rollfeld, wo die Benzinfässer jetzt mit ebensolcher Hast zurückgerollt wurden, wie sie herangebracht worden waren. In dem großen Cockpit brannte Licht, aber er konnte niemanden darin entdecken.»Wenn er damit losfliegt, ist alles vorbei.«