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Aber das war nicht alles. Noch lange nicht.

Indiana hatte im Laufe seines manchmal etwas hektischen Lebens eine Art sechsten Sinn dafür entwickelt, wenn irgend etwas nicht so war, wie es scheinen wollte. Sein Unbehagen lag nicht allein an der steifen Garderobe oder der Tatsache, daß seine Kiefermuskulatur vom ständigen Zurückgrinsen allmählich wehzutun begann. Es lag auch nicht an den stämmigen — wenn auch freundlich dreinblickenden — Hünen, die auffallend unauffällig an den Türen standen und deren Jacketts sich in Achselhöhe verdächtig ausbeulten; dies war ein alltägliches Übel, wenn man in einer russischen Botschaft zu Gast war und in den Botschaften fast aller anderen Nationen auch. Paranoia gehörte heutzutage anscheinend zum guten Ton.

Allerdings mußte er zugeben, daß die Repräsentanten des einzigen wahren Arbeiter- und Bauernstaates dieser Welt ganz besondere Prachtexemplare der Gattung homo paranoikus waren. Die Erben des Zarenregimes mochten sich auf die Fahnen geschrieben haben, ihrem erwählten Volk das Paradies auf Erden zu bringen, aber in punkto Verfolgungswahn standen sie ihren Vorgängern wahrscheinlich in nichts nach.

Aber auch das war es nicht.

Etwas stimmte hier nicht.

Mit jeder Sekunde wurde er sich sicherer, daß ihn sein Gefühl nicht trog. Manchmal fing er eine Bewegung aus den Augenwinkeln auf, die ihm ein bißchen zu hektisch wirkte. Blicke, die rasch und verstohlen getauscht wurden, kleine, scheinbar unverfängliche Gesten … Und vor allem das Gefühl. Es lag wie eine unsichtbare elektrische Spannung in der Luft. Das Gefühl — nein, schon fast so etwas wie das sichere Wissen, daß etwas geschehen würde. Etwas, das auf einem normalen Empfang nicht geschah; nicht einmal in einer russischen Botschaft.

Indy schüttelte den Kopf und nahm einen weiteren Schluck aus dem langstieligen Champagnerglas. Hinter seiner Stirn klingelte eine kleine, schrille Alarmglocke, und er hatte noch nicht die geringste Ahnung, warum. Aber das Schrillen war eindeutig zu laut, um ignoriert zu werden. Indiana hatte ein Leben hinter sich, das abenteuerlicher war, als die meisten seiner Freunde auch nur ahnten. Und er hätte dieses Leben nicht lange überlebt, hätte er nicht frühzeitig gelernt, auf seinen sechsten Sinn für Gefahren zu hören.

Er stellte das Glas auf dem Tablett eines vorüberhuschenden Kellners ab und setzte sich in Bewegung. Er hatte vor, sich auf die Galerie zu begeben, um einen besseren Überblick über den Saal zu gewinnen. Doch schon am Fuße der breiten, mit einem Teppich aus rotem Samt bedeckten Treppenstufen scheiterte er an einer Gestalt, die ihn um zwei Kopflängen und eine Brustbreite übertraf und ein Gesicht hatte, das aussah, als hätte jemand vor nicht allzu langer Zeit versucht, es einer kosmetischen Operation zu unterziehen, dabei aber Skalpell und Schere mit Spitzhacke und Schaufel verwechselt. Vielleicht rasierte sich der Bursche auch mit Hammer und Meißel.

«Sehr traurig, aber nicht zutreten, bitte«, sagte der Hüne im Frack in gebrochenem Englisch und schenkte Indy ein Lächeln, das selbst einen Allan Quatermain in die Flucht geschlagen hätte. Indiana kannte die Art, auf die ihn diese Augen anblickten, nur zu gut. Kalt. Wach. Taxierend. Der Mann brauchte nur einen einzigen Blick, um sein Gegenüber abzuschätzen und in eine der beiden einzigen Kategorien einzuordnen, in denen sein erbsengroßes Gehirn zu denken imstande war: in mögliche Gegner und mögliche gefährliche Gegner.

Indiana Jones war nicht der Mann, der sich von Äußerlichkeiten wie schaufelgroßen Fäusten oder Muskelsträngen, die fast so dick waren wie seine eigenen Oberarme, einschüchtern ließ.

Er wollte gerade zu einer Entgegnung ansetzen, als er aus den Augenwinkeln heraus eine hinter ihm auftauchende Gestalt bemerkte. Gleichzeitig blitzte es in den Augen des Riesen auf; und es war ein Blick, den Indiana nur zu gut kannte! Er wirbelte herum und duckte sich leicht, auf einen Schlag oder einen anderen Angriff gefaßt.

Eine Zehntelsekunde später wäre er am liebsten in den Parkettboden versunken. Er spürte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich.

«Wenn ich Ihnen helfen kann, Doktor Jones — Sie sind doch Doktor Henry Jones Junior, richtig?«

«Oh, nennen Sie mich einfach Indiana«, stotterte Indy. Seine Art zu leben und vor allem seine diversen, nicht ungefährlichen Hobbys brachten es mit sich, daß er oft und reichlich Gelegenheit fand, in das berühmte Fettnäpfchen zu treten, manchmal mit beiden Füßen und so tief — wie Marcus einmal scherzhaft bemerkt hatte —, daß er gerade noch weit genug herausschaute, um Handzeichen zu geben. Gewöhnlich machte ihm das nichts aus. Situationen, bei denen andere vor lauter Peinlichkeit im Boden versunken wären, pflegte Indiana Jones mit einem Lächeln oder einer saloppen Bemerkung abzutun.

Normalerweise.

Irgendwie war diese Situation nicht normal.

Eine junge Frau stand vor ihm. Recht groß, ausgesprochen hübsch, mit langem, blonden! Haar, das sie allerdings hochgesteckt trug, was unpassend streng wirkte. Diesen Eindruck verstärkte noch die russische Uniform, mit der sie ihre aufregenden Körperformen verhüllt hatte. Ohne Zweifel, der hübscheste Soldat, der Indiana Jones je untergekommen war.

Sie sprach mit deutlich hörbarem, russischem Akzent, und wenn es überhaupt etwas an ihr gab, das noch aufregender war als ihr Engelsgesicht oder der Körper einer Venus von Moskau, dann war es ihre Stimme; tief, sinnlich und mit einem Unterton, der etwas in Indiana vibrieren ließ. Er hatte noch nie erlebt, daß ihn eine Frau so verwirrte wie diese Frau; einfach weil sie da war.

«Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle?«Sie deutete eine leichte, wenig feminine Verbeugung an, ließ Indy dabei aber keine Sekunde aus den Augen. Tief in ihrem Blick glaubte er ein Lächeln zu erkennen, das wärmer war als die berufsmäßige Freundlichkeit, die jeder hier zur Schau trug, und das nur ihm allein galt. Aber vielleicht redete er sich das nur ein. Bei einer Frau wie dieser hatte kein Mann eine Chance, der nicht mindestens das Aussehen eines Tyrone Power, den Intelligenzquotienten eines Albert Einstein und das Bankkonto eines Howard Hughes hatte. Dummerweise verfügte Indiana über keines dieser Attribute.

«Mein Name ist Tamara Jaglova, Kommissarin der Vereinigten Sowjet-Republiken. Ich habe Sie schon den ganzen Abend gesucht, Doktor Jones.«

Indy bemerkte sehr wohl, daß ihre gestelzte Sprache eindeutig nicht ihm, sondern dem grinsenden Muskelpaket vor der Treppe galt. So neigte auch er sich leicht vor, griff nach Tamaras Arm und hauchte einen perfekten Handkuß, der einen österreichischen K.u.K-Rittmeister vor Neid hätte erblassen lassen.

Die Gestalt, die dabei neben Tamara auftauchte, nahm er erst richtig zur Kenntnis, als er sich wieder aufrichtete.

Dabei war der Mann im Grunde nicht zu übersehen.

Er bot einen wahrhaft imposanten Anblick; und das nicht einmal wegen seiner Größe. Er war alles andere als ein Zwerg, überragte Indiana aber um kaum mehr als einen Zoll. Seine Schultern waren so breit, daß Indiana sich bequem dahinter hätte verstecken können, und über seinem Leib spannte sich eine blutrote Schärpe, die um zwei Nummern zu klein schien.

Aber nur sehr wenig von dem, was von innen gegen die Nähte seiner Jacke drückte und seine Schultern ausbeulte, war überflüssiges Fett. Er bewegte sich auf die nur plump scheinende Art eines wirklich starken Mannes. Seine Hände waren breit, mit kurzen Fingern und Schwielen, die verrieten, daß er nicht immer maßgeschneiderte Paradeuniformen getragen und sich auf gebohnertem Parkett bewegt hatte. Die Augen des Mannes waren eiskalt und schienen ihn mehr wie einen potentiellen Meuchelmörder denn wie einen Gast zu mustern. Trotzdem spürte Indiana keine Feindschaft. Vielleicht gehörte sein Gegenüber einfach zu jener Art von Menschen, die prinzipiell in jedem Menschen einen potentiellen Feind sahen.