«Lobsang!«rief Indiana ungeduldig.»Hör mit der Spielerei auf und komm her!«
Er streckte dem Tibeter die Hand entgegen, zog ihn mit einem kraftvollen Ruck zu sich in die Höhe und trat die Leiter davon.
Ein rascher Blick nach vorn in das offenstehende Cockpit zeigte ihm, daß die Maschine tatsächlich leer war. Hastig verschlossen sie die Tür und stürzten in die Pilotenkanzel.
Indianas Mut sank ein wenig, als sein Blick über das komplizierte Instrumentenpult glitt. Trotzdem zögerte er keine Sekunde, sich in den Pilotensitz fallenzulassen und Lobsang mit einer ungeduldigen Geste zu bedeuten, auf dem zweiten Sessel neben ihm Platz zu nehmen. Nervös, aber trotzdem sehr schnell und sicher, legte er die linke Hand auf den Steuerknüppel und die rechte auf den Gashebel — so ziemlich die einzigen Instrumente hier, mit denen er umzugehen verstand.
«Sind Sie sicher, daß Sie diesen Holzvogel fliegen können, Dr. Jones?«fragte Lobsang nervös neben ihm.
«Dieser Holzvogel besteht aus Wellblech«, antwortete Indy gepreßt.»Und ich bin sicher, keine Angst. «Was eine glatte Lüge war. Aber welche Wahl hatten sie schon noch?
Entschlossen schob er den Gashebel ein Stück nach vorn. Die Maschine zitterte, als die beiden großen Motoren an den Tragflächen schneller liefen. Im ersten Moment hatte Indiana das schreckliche Gefühl, daß die Maschine sich trotzdem nicht von der Stelle bewegte, aber dann begann sie langsam loszurollen.
Indianas Herz schlug immer schneller und härter. Er war in Schweiß gebadet, und seine Hände zitterten so stark, daß er Mühe hatte, den Steuerknüppel zu halten. Trotzdem gab er mehr Gas und versuchte, die mittlerweile fast vollkommene Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen.
Die beiden Zeros glitten vorüber, und er sah ein halbes Dutzend Gestalten, die sich mit hastigen Sprüngen aus dem Weg warfen. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, wie lang die Startbahn gewesen war. Er wußte es nicht — aber er hatte das ungute Gefühl, daß sie ihm sehr kurz vorgekommen war.
Das Dröhnen der Motoren wurde lauter, als Indiana den Gashebel weiter nach vorn schob. Er sah aus den Augenwinkeln, wie sich Lobsang an den Kanten seines Sitzes festzuklammern begann, schloß für eine Sekunde die Augen, gab noch mehr Gas und zog den Steuerknüppel mit beiden Händen behutsam an sich heran.
Das Flugzeug hob die Nase ein wenig in die Höhe, machte einen Hüpf er von kaum anderthalb oder zwei Metern und fiel mit einem furchtbaren Krachen wieder zurück.
Lobsang keuchte, schwieg aber tapfer weiter, und Indiana stieß den Beschleunigungshebel mit einem entschlossenen Ruck bis zum Anschlag vor.
Die Motoren brüllten auf. Das brennende Lager und die Schatten der Kämpfenden huschten an ihnen vorüber, und eine dünne, häßliche Stimme hinter seiner Stirn begann Indiana zuzuflüstern, daß er mit seiner Vermutung recht hatte und die Startbahn tatsächlich doch sehr viel kürzer war, als er annahm.
Er ignorierte sie, zählte in Gedanken langsam bis fünf und zog dann noch einmal am Steuerknüppel. Die Maschine hob mit enervierender Langsamkeit die Nase in die Luft. Das Bugrad verlor den Kontakt zum Boden, aber die beiden anderen Räder rumpelten plötzlich über eine Erde, die nicht mehr aus festgestampftem Lehm, sondern aus Gras, kleinen Felsbrocken und Steinen bestand — und plötzlich war nichts mehr unter ihnen.
Das Flugzeug jagte in einer immer steiler werdenden Kurve in den Himmel hinauf und kippte wieder in die Waagerechte zurück, als Indiana im letzten Moment auf den Gedanken kam, den Steuerknüppel wieder ein wenig loszulassen.
Er atmete erleichtert auf, und neben ihm stieß auch Lobsang hörbar die Luft aus.
«Geschafft!«sagte Indy, um mit einem Seitenblick auf Lobsang stirnrunzelnd hinzuzufügen:»Was ist los mit dir, alter Freund? Hat dir deine Vision nicht gezeigt, daß du noch zu einem kostenlosen Rundflug kommst?«
«Ich wußte, daß ich mich … in den Himmel erheben werde«, antwortete Lobsang ernsthaft.»Aber ich habe die Zeichen falsch gedeutet. Ich dachte, es wäre … anders gemeint.«
Indianas spöttisches Lächeln erlosch, als er begriff, was der Tibeter wirklich meinte. So, wie er Tsangpos Tod in Kauf genommen hatte, hatte er Indiana in dem vermeintlich sicheren Wissen begleitet, daß er sterben würde.
«Keine Sorge«, sagte er aufmunternd,»so schnell wirst du nicht zu deinen Göttern gehen. «Er grinste.»Das Beste kommt doch erst noch.«
So behutsam er konnte, legte er die Maschine in eine Linkskurve und nahm ein wenig Gas zurück. In einer halben Meile Höhe flogen sie über das japanische Militärlager hinweg. An zahlreichen Stellen waren Brände ausgebrochen, und das Flugfeld war jetzt von einem großen Scheinwerfer beleuchtet, der vor einer Minute noch nicht gebrannt hatte. Überall wurde gekämpft. Indiana sah hin- und herhastende Gestalten, Männer zu Pferde und zu Fuß, aber auch an zahllosen Stellen das grelle Mündungsfeuer von Waffen. Der Rest von Motos kleinem Heer schien sich wohl doch zu so etwas wie organisiertem Widerstand durchgerungen zu haben.
Trotzdem zweifelte Indiana nicht am Ausgang der Schlacht.
Er hatte noch immer keine Ahnung, warum die Mongolen die japanischen Truppen angriffen, aber sie taten es mit dem Mut von Männern, für die der Tod nichts Erschreckendes, sondern die Erfüllung ihres Lebens war.
Er beendete seinen Rundflug, ließ das Flugzeug wieder höhersteigen und drehte die Nase nach Westen.
«Wohin fliegen wir, Dr. Jones?«
«Zum Himalaya«, antwortete Indiana.»Sieh’ bitte nach, ob du eine Karte findest.«
Lobsang erhob sich unsicher aus seinem Sitz und begann erst die Pilotenkanzel, dann den rückwärtigen Raum zu durchsuchen. Er brauchte fast zehn Minuten, aber als er zurückkam, hielt er eine in schwarzes Leder gebundene Mappe in den Händen.
Indiana war überrascht, als Lobsang sich wieder neben ihn setzte und die Mappe aufschlug — sie enthielt die Karte, auf der Moto am Abend zuvor den Standort Shambalas ausgemacht hatte. Die Karte war für Moto von unschätzbarem Wert. Daß sie sich trotzdem an Bord des Flugzeuges befand, konnte nur bedeuten, daß sie dem Japaner im buchstäblich allerletzten Moment zuvorgekommen waren.
Lobsang sah nicht besonders glücklich aus. Es fiel Indiana nicht sehr schwer, seine Gedanken zu erraten.
«Es gefällt dir nicht, nicht wahr?«fragte er.
Lobsang antwortete nicht, aber sein Blick sprach Bände.
«Wir müssen dorthin, Lobsang«, sagte Indiana mit leiser, eindringlicher Stimme. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Karte.»Und ich brauche deine Hilfe. Ich bin nicht sicher, daß ich den Weg allein finde. Ich bin kein Pilot.«
Lobsang schwieg weiter.
«Du hast bei deinem Leben geschworen, den Weg nach Shambala nicht zu verraten, nicht wahr?«murmelte Indy.
Der Tibeter sah ihn ernst und durchdringend an, und nach einer Ewigkeit nickte er.
«Ich würde diesen Schwur respektieren, wenn ich es könnte«, sagte Indiana.»Aber wir müssen nach Shambala. Das Schwert muß an einen anderen Ort gebracht werden. Und wenn wir es nicht tun, dann Moto. Wenn er den Kampf überlebt«(und aus irgendeinem Grund zweifelte Indiana keine Sekunde daran),»dann kostet es ihn wahrscheinlich nur ein paar Stunden, eine neue Karte zu besorgen.«
Wieder vergingen endlose Minuten, in denen Lobsang nur aus blicklosen Augen ins Leere starrte. Sein Blick war wie Stein, aber Indiana spürte, welcher Kampf hinter seiner Stirn tobte.
Er war nicht ganz sicher, ob er wirklich nachempfinden konnte, was der Tibeter in diesen Augenblicken durchmachte.