Er hatte nur die Wahl, seinen Schwur zu brechen, oder das zu verlieren, zu dessen Schutz er diesen Schwur getan hatte. Und wie immer er sich entschied, er mußte dabei das Gefühl haben, das Falsche zu tun.
Nach einer Ewigkeit nickte der Tibeter.»Sie haben recht, Dr. Jones«, sagte er.»Ich … werde Ihnen den Weg nach Shambala zeigen. Aber es fällt mir sehr schwer.«
«Danke«, sagte Indiana einfach.
Eine ganze Weile flogen sie schweigend dahin, dann fragte Lobsang:»Der Weg ist sehr weit. Glauben Sie, daß der Treibstoff reicht?«
«Ich denke schon«, antwortete Indiana.»Da hinten steht ein Dutzend Benzinfässer. Und die Schläuche haben sie bestimmt nicht verlegt, weil sie so dekorativ aussehen. Ich glaube nicht, daß Moto vorhatte, das letzte Stück Weg zu Fuß zu gehen.«
Lobsangs Antwort bestand nur aus brütendem Schweigen, aber Indy mußte plötzlich wieder daran denken, was ihm der Tibeter über Shambala erzählt hatte — nämlich, daß es in einem ziemlich unzugänglichen Teil des Gebirges lag, in dem ein Flugzeug nicht landen konnte.
Trotzdem war das im Moment eigentlich seine geringste Sorge; er hatte kein bißchen übertrieben, als er Lobsang gegenüber behauptet hatte, kein Pilot zu sein. Um die Wahrheit zu sagen, war er nicht nur kein guter Pilot: Er war überhaupt kein Pilot. Daß er das Flugzeug in die Luft bekommen hatte, wunderte ihn selbst am meisten. Und er hatte nicht die mindeste Ahnung, wie er es landen sollte, weder auf einem Eisfeld in fünftausend Metern Höhe, noch auf einem Flugplatz.
Nach einigen Sekunden des Überlegens entschied er sich, zumindest das vorerst für sich zu behalten. Lobsang war nervös genug.
Und er auch.
Eine gute halbe Stunde lang flogen sie nach Westen. Da es Nacht war und Indiana die Bedeutung der meisten Instrumente nicht einmal zu erraten vermochte, ließ er das Flugzeug so weit aufsteigen wie es ging, um nicht in der Dunkelheit mit einem Berggipfel zu kollidieren. Ein paarmal korrigierte er ihren Kurs um eine Kleinigkeit, so daß sie sich nicht mehr nur nach Westen, sondern nun auch ganz leicht in südliche Richtung bewegten, hielt es aber ansonsten für sicherer, mit größeren Kurskorrekturen bis zum Morgen zu warten.
Sie sprachen sehr wenig in dieser Zeit. Lobsangs Lächeln war erloschen, und Indiana war nicht sicher, ob es jemals wieder zurückkehren würde, und jedes Wort des Trostes, das er hätte sagen können, kam ihm selbst billig und verlogen vor, so daß er es vorzog zu schweigen. Lobsang tat ihm leid. Er war noch immer nicht völlig davon überzeugt, daß der Tibeter wirklich auf seiner Seite stand, aber das spielte in diesem Zusammenhang keine Rolle.
Endlich erwachte der Tibeter aus seiner Starre. Mit umständlichen, erzwungen wirkenden Bewegungen legte er die Karte in die Mappe zurück, klappte sie zu und deponierte sie vorsichtig neben sich auf dem Boden. Indiana wollte einen Einwand erheben, aber Lobsang schien seine Gedanken zu erraten, denn er machte nur eine abwehrende Handbewegung und sagte:»Wir brauchen diese Karte nicht. Ich finde den Weg auch so. «Er ließ eine Sekunde verstreichen, dann deutete er nach links.
«Wir müssen weiter nach Süden.«
Indiana korrigierte den Kurs der Maschine gehorsam, bis Lobsang ihm mit einem Nicken zu verstehen gab, daß er zufrieden war.»Sie sollten vielleicht — «
Der Tibeter brach mitten im Wort ab. Schrecken breitete sich auf seinen Zügen aus. Indiana fuhr herum, blickte nach links — und fuhr ebenfalls entsetzt zusammen.
Der Himmel neben ihnen war nicht mehr leer. Nur wenige hundert Meter neben ihnen war ein zweites Flugzeug aufgetaucht. Es war zu dunkel, um die Hoheitskennzeichen auf Tragflächen und Leitwerk zu erkennen, und Indiana verstand nicht genug von Flugzeugen, um es anhand seines Umrisses zu identifizieren — aber es gehörte wirklich nicht viel Phantasie dazu, zu erraten, um welche Maschine es sich handelte. Erschrocken wandte er den Blick und sah nach rechts, und fast im gleichen Augenblick tauchte auch dort der Umriß eines Flugzeuges am Himmel auf. Plötzlich flammten am vorderen Ende des schwarzen Schattens kleine, orangerote Funken auf. Eine doppelte Reihe greller Leuchtspurgeschosse jagte auf Indianas Maschine zu und verfehlte sie nur um wenige Meter. Und auch das andere Flugzeug eröffnete das Feuer, so daß sich die hellgrünen Bahnen der Leuchtspurmunition vor dem Bug der Maschine kreuzten.
Indiana riß verzweifelt am Steuerknüppel. Das Flugzeug schoß mit aufbrüllenden Motoren in die Höhe, kam ins Trudeln und fing sich im buchstäblich allerletzten Moment wieder.
Indiana hielt das Steuerruder mit aller Kraft. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Die beiden Zeros hatten das Feuer eingestellt, aber die Bedeutung ihrer Salven war klar.
Wenige Augenblicke später begann auf dem Instrumentenbord vor Indiana eine kleine, rote Lampe zu blinken. Beinahe verzweifelt irrte sein Blick über die verwirrende Vielzahl von Instrumenten und die japanische Beschriftung. Schließlich griff er nach den Kopfhörern des Funkgerätes, stülpte sie über und begann unsicher, an den Knöpfen des Empfängers zu drehen.
Im ersten Moment erntete er nichts als statisches Rauschen und Knistern, aber dann hörte er ganz schwach Motos Stimme.
«… Jones? Verstehen Sie mich? Wenn Sie mich hören können, geben Sie mir ein Zeichen!«
Indianas Finger drehten weiter an den Knöpfen, die Stimme wurde klarer, verschwand für einen Moment völlig und kehrte dann zurück, so laut und deutlich, als säße der Japaner neben ihm.
«Ich bin sicher, daß Sie mich verstehen, Dr. Jones«, sagte Moto.»Geben Sie mir ein Zeichen. Zwingen Sie uns nicht etwas zu tun, was Sie am meisten bedauern würden, Dr. Jones.«
Indiana fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen, sah die beiden Maschinen rechts und links ihres eigenen Flugzeuges an und bewegte dann ganz sachte den Steuerknüppel.»Wenn Sie die große rote Taste am Funkgerät drücken, können Sie mit mir reden.«
Indiana streckte die Hand aus, zog sie aber dann wieder zurück.»Es reicht, wenn Sie verstehen, was ich Ihnen sage. Hören Sie mir genau zu, Dr. Jones. Ich werde meine Worte nicht wiederholen.«
Indiana drückte nun doch die Sprechtaste des Funkgerätes.
«Was wollen Sie, Moto?«fragte er unfreundlich.
Zu seiner Überraschung lachte Moto.»Sie sitzen in einem Flugzeug, das mir gehört«, antwortete er ruhig.»Leider befindet sich an Bord dieses Flugzeuges eine Karte, die ich Ihnen nun beim besten Willen nicht überlassen kann.«
«Dann machen Sie das Fenster auf«, riet ihm Indiana.»Ich werfe sie Ihnen hinüber.«
Wieder lachte Moto.»Sie haben Ihren Humor noch nicht verloren«, sagte er.»Das ist gut. Vielleicht werde ich Ihnen sogar vergeben, Dr. Jones, obwohl Sie meine Gastfreundschaft schamlos ausgenutzt haben. Auf der anderen Seite ist der Verlust der Karte vielleicht nicht ganz so tragisch, wie es mir im ersten Moment erschien. Schließlich haben wir einen guten Führer.«
Indiana schwieg darauf.
«Ich nehme doch an, daß Sie Luftkarten lesen können«, fuhr Moto fort.»Genauer gesagt, ich hoffe es, um Ihretwillen, Dr. Jones. Da ich leider keine andere Möglichkeit mehr habe, muß ich mich Ihrer Führung anvertrauen.«
«Das einzige, wohin ich Sie führen werde, Moto — «, begann Indiana, wurde aber sofort wieder unterbrochen.
«— ist Shambala«, ergänzte Moto. Plötzlich klang seine Stimme hart und kalt wie Glas, jede Spur von Freundlichkeit war daraus gewichen.»Und bitte versuchen Sie keinerlei Tricks. Unsere Flugzeuge sind schneller als Ihres und gut genug bewaffnet, um Sie jederzeit abschießen zu können. Also seien Sie vernünftig, spielen den Pfadfinder für uns und tun ein gutes Werk. «Er lachte humorlos.
«Ach ja«, fügte er hinzu,»bevor Sie sich einer falschen Hoffnung hingeben, lassen Sie mich Ihnen sagen, daß auch diese beiden Zeros mit zusätzlichen Treibstofftanks ausgerüstet wurden. Wir hatten die Expedition von vornherein für drei Maschinen geplant. Wenn Sie mir versichern, keine weiteren Schwierigkeiten zu machen, dann verspreche ich Ihnen, etwas Bestimmtes in Betracht zu ziehen; obwohl es mir immer schwerer fällt, um ganz ehrlich zu sein.«