Lobsang beugte sich zur Seite, um durch das Fenster einen Blick nach unten zu werfen. Indiana fragte sich, was er dort zu sehen erwartete. Seit es hell geworden war, schien sich der Anblick unter ihnen nicht verändert zu haben. Die Berge, deren Gipfel sich durchschnittlich in drei-, vier- oder auch fünftausend Meter Höhe erstreckten, reihten sich schier endlos aneinander, und mit Ausnahme ihrer Höhe schien einer wie der andere auszusehen. Mit einem Male war Indiana gar nicht mehr so sicher, daß Lobsang den Weg in das geheimnisvolle Shambala tatsächlich fand. Es war eine Sache, einen Weg durch dieses Gebirge zu gehen, sei es nun zu Fuß oder auf dem Rücken eines Lamas oder Maultieres, aber eine völlig andere, den gleichen Weg aus der Vogelperspektive wiederzufinden. Er betete, daß es Lobsang gelang. Ihrer beider Leben hing davon ab, und vielleicht auch noch das von zahllosen anderen Menschen.
Aber in diesem Moment sagte Lobsang:»Fliegen Sie zurück, Dr. Jones.«
Indiana legte die Maschine gehorsam in eine behutsame Linkskurve, bis sie eine Wendung um nahezu hundertachtzig Grad vollführt hatten und Lobsang ihm mit einer Geste zu verstehen gab, daß er wieder auf dem richtigen Kurs lag.»Ist es weit?«fragte er.»Moto hat allerhöchstens noch Treibstoff für zwei oder drei Minuten.«
«Wenn es dem Schicksal so gefällt, so wird diese Zeit reichen«, antwortete Lobsang ausweichend — was wahrscheinlich seine Version von Ich habe keine Ahnung war.
Indiana lächelte nervös und nahm wieder Kontakt mit Moto auf.»Wir sind auf dem Weg«, sagte er.
«Das hoffe ich«, antwortete Moto.»Ich will Sie ja nicht beunruhigen, Dr. Jones, aber gerade in diesem Moment hat mein Motor das erste Mal gestottert. Und mein Zeigefinger wird immer nervöser.«
Indiana ersparte sich die Antwort und konzentrierte sich auf das Gebirge vor ihnen. Weit entfernt, sicherlich dreißig, vielleicht auch fünfzig Meilen vor dem Flugzeug, erhob sich ein besonders hoher, steiler Berg über die Gipfel der anderen, dessen Flanken unter einem makellosen Eispanzer verborgen waren.
Indiana war nicht sonderlich überrascht, als Lobsang mit einer wortlosen Geste darauf deutete. Vergeblich versuchte er, die Zeit zu schätzen, die sie noch brauchen würden, um dorthin zu gelangen. Er hatte das Gefühl, daß sie nicht reichte.
«Bitte, geh nach hinten und sieh nach, ob wir Fallschirme an Bord haben«, sagte er.
Lobsang sah ihn auf eine Art an, die jedes Wort überflüssig machte. Selbst wenn sie Fallschirme dabei hatten — was Indiana bezweifelte —, war ein Absprung über diesem Gelände glatter Selbstmord. Und auch, wenn sie wider alle Wahrscheinlichkeit einen solchen Sprung überleben sollten — ein Marsch von dreißig oder fünfzig Meilen durch dieses Gelände war der sichere Tod. Dies alles und noch mehr las er in dem Blick, den der Tibeter ihm zuwarf. Aber Lobsang sprach nichts von alledem aus, sondern erhob sich gehorsam und verschwand im hinteren Teil des Flugzeuges.
Indiana nutzte die kurze Frist, die ihnen noch blieb, um ein letztes Mal mit Moto zu reden.
«Wie sieht es aus?«fragte er.
Motos Stimme klang fast amüsiert.»Seltsam — dasselbe wollte ich Sie gerade auch fragen, Dr. Jones. Mein Treibstoffanzeiger steht auf Null. Allerdings habe ich ausreichend Munition, wenn es das ist, was Sie wissen wollen.«
Indiana verbiß sich jede Antwort darauf. Moto war verrückt, das war ihm jetzt klar. Er war sogar ziemlich sicher, daß der Japaner ihn und Lobsang auf jeden Fall töten würde; und sei es nur, um alle lästigen Zeugen dafür zu beseitigen, wie er es mit seiner» Ehre «und seinem Versprechen hielt. Sein Blick glitt über die schimmernden Flanken des gewaltigen Berges. Er war nähergekommen, aber nicht sehr. Plötzlich wußte er, daß sie es nicht schaffen würden.
Lobsang kam zurück. Er sagte kein Wort, und seine Hände waren leer, als er sich neben Indiana Jones auf den Sitz des Copiloten fallen ließ.
«Dr. Jones?«Motos Stimme in seinen Kopfhörern klang irgendwie … verändert. Nervosität und Angst waren nicht mehr zu überhören. Es überraschte Indiana ein wenig, erfüllte ihn aber zugleich mit einer absurden Befriedigung, daß auch ein Mann wie Moto Angst vor dem Sterben hatte. Er antwortete nicht.
Aber er sah genau in diesem Moment etwas, das ihn auf eine haarsträubende Idee brachte — aber verzweifelte Situationen bedingten manchmal verzweifelte Taten, und davon abgesehen blieb ihm keine Zeit mehr, großartige Pläne zu entwerfen.
Seine Hände schmiegten sich fester um das Steuerrad.
Zwei, drei Sekunden lang hielt er das Flugzeug noch auf seinem ursprünglichen Kurs, dann drückte er das Steuer mit aller Kraft herunter und riß die Maschine gleichzeitig nach links.
Die Welt vor den Fenstern vollführte einen halben Salto, und eine Sekunde später schoß ein schwarzes Phantom über das Flugzeug hinweg. Indiana hörte Moto in seinem Kopfhörer fluchen, achtete aber nicht darauf, sondern versuchte, das Flugzeug aus dem begonnenen Sturzflug wieder heraus und auf die Wolkenbank zuzureißen, die er entdeckt hatte.
Es war nur eine minimale Chance. Was er für eine besonders tief hängende Wolke hielt, konnte ebensogut Nebel sein, unter dem sich die tödlichen Grate eines weiteren Berges verbargen, und selbst wenn es nicht so war, würde er die Maschine nur wenige Augenblicke darin halten können, auch wenn er das Tempo noch so weit zurücknahm. Niemand garantierte ihnen, daß Moto tatsächlich verschwunden war, wenn sie wieder aus der Deckung der Wolkenbank auftauchten.
In Indianas Bewußtsein war allerdings in diesem Moment kein Platz für solche Überlegungen. Ein hörbares Knirschen und Ächzen durchlief den Flugzeugrumpf, und auf dem Instrumentenbord begannen einige Lämpchen zu blinken.
Irgendwie schaffte er es, die Kontrolle über die trudelnde Maschine zurückzugewinnen. Aus dem rasenden Sturz wurde ein noch immer schnelles, aber gelenktes Gleiten, und die Wolkenbank kam rasch näher. Indiana glaubte, einen gewaltigen Schatten darunter zu erkennen, versuchte sich aber einzureden, daß dies nur ein Streich war, den ihm seine überreizten Nerven spielten.
Ein letztes Mal suchte er den Himmel ab. Von Motos Maschine war keine Spur zu entdecken — und wie auch? Die letzten Sekunden waren für Indiana zu einer Ewigkeit geworden, aber tatsächlich waren erst drei oder vier davon vergangen, seit er das Flugzeug herumgerissen hatte. Motos Zero war einfach an ihm vorbeigeschossen, wie er gehofft hatte, und noch bevor es dem Japaner gelingen konnte, die Maschine herumzureißen und zur Verfolgung anzusetzen, mußten sie die Wolke erreicht haben und wenigstens für Augenblicke in Sicherheit sein.
Das war vielleicht nicht der erste, mit Sicherheit aber der folgenschwerste Irrtum, der Indiana Jones unterlief, seit er das erste Mal auf Mr. Moto getroffen war.
Motos Maschine war weder vor noch über noch neben ihnen, aber es dauerte einige Augenblicke zu lange, bis Indiana klar wurde, daß die einzig übrigbleibende Richtung hinter ihnen war … Er hörte das Heulen der Geschosse, die dicht an der Kanzel vorbeipfiffen, sah die grellen Leuchtspuren und fast im selben Augenblick die Funken, die aus der linken Tragfläche stoben. Das Fenster neben ihm zersplitterte. Eisiger Fahrtwind und ein Hagel scharfkantiger Splitter prasselten auf Indiana herunter.
Und plötzlich wurde die Welt vor den Fenstern grau. Er sah nichts mehr. Außerhalb der Maschine waren nur noch graue, zerrissene Schwaden. Der Wind pfiff noch immer in sein Gesicht, aber er trug jetzt keine Glassplitter mehr mit sich, sondern eisige Kälte, die fast ebenso schmerzhaft in seine Haut schnitt und ihm die Tränen in die Augen trieb.
Das Flugzeug begann immer stärker zu trudeln. Gegen Motos Behauptung war es nicht beim ersten Treffer explodiert, aber die Geschosse mußten wichtige Teile beschädigt oder zerstört haben. Indiana hielt das Steuer mit aller Kraft, aber er hatte die Kontrolle über die Maschine fast gänzlich verloren. Sie bockte, hüpfte wild auf und ab und brach in alle nur erdenkliche Richtungen aus. Lobsang schrie ihm irgend etwas zu, das im Heulen des hereinströmenden Windes einfach unterging. Mit aller Gewalt zerrte er den Steuerknüppel an sich heran. Die Motoren heulten, aber ihr Dröhnen klang jetzt ungleichmäßiger, fast gequält, und beißender Ölgestank erfüllte plötzlich das Cockpit.