Und trotzdem gelang es ihm irgendwie, die Nase der Maschine in die Höhe zu ziehen.
Er sah einen gewaltigen Schatten dicht unter ihnen hinweghuschen, aber ihm blieb nicht einmal Zeit, zu erschrecken. Das Grau lichtete sich, dann zerfaserten die Wolken, und das Flugzeug trudelte wieder in die Höhe.
Mehr durch Zufall als durch eigenes Dazutun flog Indiana eine Kehre von dreihundertsechzig Grad. Sein Blick suchte den Himmel ab. Und in einer Entfernung von allerhöchstens zwei Meilen entdeckte er den Umriß von Motos Zero!
Doch auch jetzt erschrak er nicht wirklich. Der Jäger schien wie ein angreifender Raubvogel auf ihre Maschine herabzustoßen, aber er sah sofort, daß irgend etwas nicht stimmte. Auf den zweiten Blick erkannte er, was es war.
Das Kanzeldach fehlte. Die Kabine darunter war leer.
Einen Augenblick später gewahrte er einen winzigen weißen Punkt, der tief unter ihnen auf das Gebirge zuglitt und nach Sekunden mit dem schimmernden Weiß des Eises verschmolz.
Motos Maschine jagte noch eine Sekunde lang weiter in der Waagerechten dahin, bis die Motoren endgültig zum Stillstand kamen, und aus dem waagerechten Flug wurde ein immer steiler und steiler werdender Sturz, bis sie schließlich in die gleiche Wolke eintauchte, aus der Indiana vor Sekunden aufgetaucht war, und für alle Zeiten verschwand.
Indiana atmete hörbar erleichtert auf. Sie hatten noch nicht gewonnen, das war ihm klar. Irgend etwas sagte ihm; daß Moto es schaffen würde. Der Japaner gehörte nicht zu den Menschen, die sich bei etwas so Banalem wie einem Fallschirmabsprung den Hals brachen. Aber sie hatten Zeit gewonnen, vielleicht genau die Zeit, die sie brauchten, Shambala zu erreichen und das Schwert fortzubringen, ehe Moto auf der Bildfläche erschien.
Glaubte er.
Er glaubte es ungefähr eine Sekunde lang ganz ernsthaft, als er bemerkte, wie der linke Motor des Flugzeugs zu stottern begann. Nach zwei, drei letzten trägen Umdrehungen des Propellers stellte die Maschine endgültig ihren Dienst ein und begann statt dessen zu brennen.
Indiana schlug zornig mit der Faust auf das Steuer, und Lobsang beugte sich vor, betrachtete eine Sekunde lang mit fast wissenschaftlichem Interesse die kleinen, blauen Flämm-chen, die aus dem linken Motor schlugen und sich allmählich in den Stoffbezug der Tragfläche zu fressen begannen. Dann fragte er:»Was bedeutet das, Dr. Jones?«
«Oh, nichts Besonderes«, antwortete Indiana.»Außer, daß wir in den nächsten zwanzig Sekunden eine Landebahn brauchen — oder wir sind eher auf dem Boden als Moto.«
Lobsangs Gesicht verlor ein bißchen an Farbe, aber er antwortete nicht, sondern sah statt dessen wieder nach vorn und deutete plötzlich auf einen Punkt ein wenig rechts von ihnen.
«Dort«, sagte er.»Versuchen Sie es dort, Dr. Jones.«
Indiana blickte in die angegebene Richtung, konnte aber nichts weiter als das übliche Durcheinander aus Steinen, Eis und rasiermesserscharfen Felszacken erkennen. Trotzdem versuchte er, die trudelnde Maschine wenigstens ungefähr in die Richtung zu steuern, die Lobsang ihm gewiesen hatte.
Er widerstand der Versuchung, nach links zu sehen und den brennenden Motor zu betrachten — statt dessen konzentrierte er sich darauf, den Boden nach der Stelle abzusuchen, an der Lobsang eine Landung für möglich hielt. Als er sie entdeckte, konnte er direkt fühlen, wie sich jedes einzelne Haar auf seinem Kopf sträubte.
Es war kein Gletscher oder ein besonders flacher Berghang, wie er vermutet hatte, sondern eine schier bodenlose, meilenlange Schlucht, die das Gebirge vor ihnen spaltete. Nicht einmal ein Meisterpilot hätte ein Flugzeug dort hineinsteuern können.
Aber er hatte keine andere Wahl mehr. Etwa ein Drittel der linken Tragfläche brannte, und der verbliebene Motor hatte nicht mehr die Kraft, das Flugzeug zu halten oder gar wieder in die Höhe steigen zu lassen.
«Wahnsinn!«murmelte er.»Das ist Wahnsinn!«
Womit er recht hatte. Doch ihm blieb keine Zeit mehr, ihre Chancen auszurechnen oder sich gar über Lobsangs Qualitäten als Pfadfinder zu äußern. Die Maschine sank tiefer, und plötzlich war rechts und links von ihnen kein freier Himmel mehr, sondern das glitzernde Weiß der eisüberkrusteten Felsen, das mit entsetzlicher Geschwindigkeit vorüberhuschte. Indiana konnte jetzt den Boden der Schlucht erkennen. Er war tatsächlich so eben, daß ein Flugzeug darauf vermutlich landen konnte — aber der Spalt verengte sich Zusehens, je tiefer sie kamen.
Wahrscheinlich hätte der schmale Pfad am Grunde der Schlucht nicht einmal ausgereicht, einen Albatros mit ausgebreiteten Schwingen landen zu lassen!
Indiana schrie auf, als die Wände von beiden Seiten zugleich auf das Flugzeug zuzuspringen schienen. Instinktiv versuchte er, die Maschine noch einmal in die Höhe zu reißen, aber es gelang ihm nicht. Ein fürchterliches Splittern und Krachen erscholl, als die Flügelkanten auf beiden Seiten gleichzeitig das Eis berührten –
— und brachen!
Indiana wurde gegen das Steuer geschleudert, sackte benommen in seinem Sitz zurück und nahm nur noch unklar wahr, wie Trümmer, Flammen und rauchende Splitter für eine Sekunde die Kanzel einhüllten. Der brennende Motor riß ab und flog davon, eine halbe Sekunde später folgte ihm auch der Propeller auf der rechten Seite, und plötzlich flammte irgendwo hinter ihnen ein grell orangefarbenes Licht auf, und in das Splittern und Bersten des auseinanderbrechenden Flugzeuges mischte sich das Krachen einer Explosion.
Die Maschine raste noch ein Stück weiter, schüttelte sich und bockte, als wolle sie endgültig auseinanderbrechen — und kam zur Ruhe!
Indiana war nur noch halb bei Bewußtsein. Er hatte sich auf die Zunge gebissen, so daß er den Geschmack seines eigenen Blutes im Mund hatte, und für Augenblicke mußte er mit aller Kraft darum kämpfen, nicht ohnmächtig zu werden. Ein häßlicher Schmerz durchzuckte sein rechtes Knie.
Stöhnend öffnete er die Augen und sah sich um. Lobsang hockte reglos und hoch aufgerichtet im Sitz neben ihm. Auch sein Gesicht war voller Blut, aber er rührte sich nicht, und sein Blick war starr. Das Flugzeug war wie durch ein Wunder zur Ruhe gekommen, aber das Knistern und Mahlen des auseinanderbrechenden Rumpfes hatte seltsamerweise nicht aufgehört, und der Sitz unter Indiana zitterte und bebte noch immer.
Er versuchte sich aufzurichten, ließ sich aber mit einer Mischung aus Überraschung und Schrecken wieder zurücksinken, als er spürte, wie das Flugzeug unter ihm zu wanken begann. Was um alles in der Welt —?
«Wir sollten jetzt sehr vorsichtig sein, Dr. Jones«, flüsterte Lobsang.
Indiana wagte nicht einmal zu antworten. Unendlich langsam, Millimeter für Millimeter, richtete er sich in seinem Sitz auf und sah durch das zerborstene Fenster nach draußen.
Im allernächsten Moment bedauerte er diesen Blick bereits.
Die Schlucht erstreckte sich vor ihnen so weit, bis sie in der Entfernung zu verschwimmen begann. Ihre Wände bestanden vollkommen aus Eis, nicht aus Felsen, wie er im ersten Moment geglaubt hatte, und sie erstreckten sich nicht nur vor und über ihnen — sondern auch unter dem Flugzeug!
Langsam, von der absurden Angst erfüllt, daß selbst diese Bewegung zuviel sein konnte, wandte Indiana den Kopf und sah zuerst nach rechts, dann nach links. Die Tragflächen der Maschine waren zu gut zwei Drittel weggerissen worden, und die zerborstenen Stummel hatten sich so tief in das Eis der Wände hineingefressen, daß das Flugzeug wie ein Messer in einer zu schmalen Scheide einfach steckengeblieben war, dreißig, vielleicht auch vierzig oder gar fünfzig Meter über dem Grund der Eisspalte!