«Ich glaube, du hast recht, Lobsang«, murmelte Indiana.»Hast du vielleicht auch eine Idee, wie wir hier herauskommen?«
Der Tibeter schüttelte vorsichtig den Kopf.»Nein«, gestand er.»In meiner Vision habe ich von diesem Teil der Reise nichts gesehen.«
Indianas Blick glitt die Wände der Gletscherspalte empor. Sie waren nicht so glatt wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte, sondern ganz im Gegenteil von Rissen und Spalten und klaffenden Schrunden durchzogen. Wenn es ihnen gelang, irgendwie aus diesem Flugzeug herauszukommen, konnten sie vermutlich daran hinaufsteigen. Indy schätzte die Entfernung bis zum oberen Ende der Gletscherspalte auf gute hundert Meter; eine elende Kletterei, aber sie hatten eine Chance.
Wenn sie hier herauskamen.
Indiana war nicht sicher, ob es ihnen gelingen würde. Das Flugzeug hatte aufgehört zu zittern, aber jede noch so kleine Bewegung ließ den Rumpf erneut beben und ächzen, und er konnte regelrecht hören, wie sich die überbeanspruchten Streben der zum größten Teil aus Wellblech und Holz bestehenden Maschine weiter bogen.
«Also gut«, murmelte er entschlossen.»Versuchen wir es.«
Lobsang starrte ihn mit einem Ausdruck an, der nur noch mit dem Wort Entsetzen zu beschreiben war, aber Indiana lächelte ihm nur aufmunternd zu, atmete noch einmal tief ein und stand dann unendlich langsam auf.
Er benötigte länger als eine Minute, nur um sich aus dem Pilotensitz zu erheben, und noch einmal mehr als das Doppelte dieser Zeit, um mit kleinen, schlurfenden Schritten zur Tür zu gelangen. Er konnte hören, wie irgendwo etwas zerbrach und Trümmer klirrend in die Tiefe rutschten. Aber der Anblick, der sich ihm bot, als er durch die Tür zum Laderaum trat, entschädigte ihn für den Schrecken, mit dem ihn dieses Geräusch erfüllte. Die Tragflächen waren nicht das einzige, was das Flugzeug eingebüßt hatte. Auch Heck und Leitwerk der Maschine waren verschwunden; an ihrer Stelle gähnte jetzt ein gut anderthalb Meter breites und ebenso hohes Loch, das von scharfkantigen Metallsplittern gesäumt war, gleichzeitig aber groß genug, um fast bequem hindurchsteigen zu können.
Mit einer Handbewegung gab er Lobsang zu verstehen, daß er ihm folgen sollte, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und schlurfte gebückt und wie ein Hochseilartist mit ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht haltend nach hinten.
Kälte und eisiger Wind sprangen ihn an, als er sich der gezackten Öffnung im Rumpf des Flugzeugwracks näherte. Die Gletscherspalte erstreckte sich auch in dieser Richtung weiter als sein Blick reichte. In einiger Entfernung konnte er die brennenden Trümmer des Motors und der abgerissenen Tragflächen erkennen, ein Stück dahinter eine Lache von brennendem Benzin, die sich zischend tiefer in das Eis hineinfräste.
Vorsichtig streckte er die Hände aus, suchte an den Rändern des Loches Halt und beugte sich vor.
Der Anblick ließ ihn schwindeln. Sie waren nicht ganz so hoch, wie es ihm im ersten Moment vorgekommen war — vielleicht nur zwanzig oder fünfundzwanzig Meter. Aber auch ein Sturz aus zwanzig Metern Höhe auf Eis mußte tödlich sein; zumal, wenn einem mit großer Wahrscheinlichkeit wenige Augenblicke später das Wrack eines Flugzeuges auf den Kopf fiel.
Aufmerksam suchte er die Wände ab. Die Maschine war genau in der Mitte der Gletscherspalte zur Ruhe gekommen. Das Eis befand sich nicht einmal mehr weit von ihnen entfernt — eigentlich nur gerade so weit, daß er es nicht erreichen konnte, wenn er sich vorbeugte.
Eine lang anhaltende, vibrierende Erschütterung lief durch den Rumpf des Flugzeuges, gefolgt von einem an den Nerven zerrenden Knirschen, und Indiana konnte spüren, wie sich die Maschine ein Stück senkte, ehe sie noch einmal zur Ruhe kam.
Vielleicht zum letzten Mal.
Entschlossen drehte er sich um, klammerte sich am oberen Rand des Loches fest und beugte sich zurück. Das Flugzeug bebte und ächzte unter dieser groben Bewegung, und diesmal war er sicher, sich nicht einzubilden, daß das Wrack ein gehöriges Stück durchsackte.
Indiana schloß für eine Sekunde die Augen, sammelte jedes bißchen Kraft und Mut, das er noch in sich fand, und zog sich mit einem Ruck hinauf.
Ein furchtbares Knirschen ertönte. Indiana sah, wie sich die zersplitterten Tragflächen unter dem Gewicht des Rumpfes mehr und mehr durchbogen, und gleichzeitig fühlte er, wie die Maschine nach hinten zu sacken begann. Aus der Waagerechten, in der sie gerade noch gehangen hatte, wurde eine erschreckend schräge Ebene.
Mit dem Mut der Verzweiflung stand er auf, machte einen raschen Schritt und drehte sich herum, ehe er sich wieder auf die Knie herabfallen ließ und die Hand ausstreckte.
«Lobsang!«schrie er.»Nimm meine Hand! Schnell!«
Lobsangs Gesicht erschien unter ihm, aber der Tibeter machte keine Anstalten, seinen Halt loszulassen und nach Indianas Hand zu greifen.
«Worauf wartest du!?«brüllte Indiana.»Greif zu!«
Das Flugzeug sackte weiter durch. Lobsang stieß einen kleinen, erschrockenen Schrei aus und klammerte sich fester an die Ränder des Loches.»Springen Sie, Dr. Jones!«schrie er.»Bringen Sie sich in Sicherheit!«
«Du sollst meine Hand nehmen!«brüllte Indiana.»Sofort!
Ich — «
Der Rest seiner Worte ging in einem furchtbaren Splittern unter. Indiana fuhr erschrocken herum und sah, wie sich der Flugzeugrumpf weiter und weiter zwischen den Tragflächen senkte. Wieder war es, als bliebe die Zeit stehen. Er beobachtete, wie die überlasteten Träger endgültig zerbrachen, die Stoffbespannung der Tragflächen zerfetzt und das Wellblech des Rumpfes wie dünnes Stanniolpapier zerknüllt wurde, und plötzlich war es, als hinge der Rumpf völlig halt- und schwerelos in der Luft.
Auf einer tieferen, dem bewußten Zugriff seines Denkens entzogenen Ebene begriff Indiana, daß es Lobsang war, der ihn schützte, die gleiche, unheimliche Kraft, die ihm schon einmal das Leben gerettet hatte, aber er fand weder Zeit noch Gelegenheit, dieses Wissen in irgendeiner Form zu verarbeiten. Er reagierte ganz instinktiv. Als das Flugzeug endgültig zu stürzen begann, stieß er sich ab, sprang mit weit ausgebreiteten Armen nach der Wand auf der rechten Seite und klammerte sich fest.
Sein Gesicht prallte unsanft gegen das Eis, und er riß sich die Haut an Händen und Knien auf. Unter ihm stürzte das Flugzeugwrack krachend in die Tiefe und zersplitterte am Grund der Gletscherspalte.
Starr vor Anstrengung und Schrecken hing Indiana fast eine Minute lang im Eis, ehe er es auch nur wagte, die Augen zu öffnen und in die Tiefe zu blicken.
Der Anblick war entsetzlich. Die Stummel der beiden Tragflächen steckten noch immer wie die Klingen überdimensionaler Äxte in den Wänden, aber der Rumpf des Flugzeuges war zwanzig Meter tiefer aufgeprallt und zerborsten. Rauch drang aus den Trümmern. Von Lobsang war keine Spur zu entdek-ken.
Indiana verspürte ein Gefühl tiefer, ehrlich empfundener Trauer. Er glaubte erst jetzt wirklich zu verstehen, was dieser alte Mann alles für ihn getan hatte, und wie ernst er das Versprechen genommen hatte, das er sich selbst und seinen Brüdern gegenüber abgelegt hatte — ernst genug, um am Schluß sein Leben für Indiana zu opfern.
Und wahrscheinlich war es auch dieses Begreifen, das ihn davon abhielt, einfach aufzugeben. Er war schon öfter in verzweifelten Lagen gewesen, aber niemals in einer wie dieser. Er hing mit blutenden Händen und schmerzendem Knie in zwanzig Meter Höhe an einer Eiswand, die sich beinahe senkrecht ungefähr hundert Meter weit über ihn erhob, und selbst wenn er das Unmögliche schaffte und irgendwie dort hinaufkam, dann lag etwas noch Unmöglicheres vor ihm — nämlich verletzt und mit nichts als einer dünnen Lederjacke und einer noch dünneren Hose bekleidet, ohne Karte, ohne Kompaß und ohne Lebensmittel einen Weg durch das höchste Gebirge der Erde zu finden.