Aber er begriff auch, daß er jetzt nicht aufgeben konnte. Vor allem Lobsangs wegen, der sein Leben für ihn gegeben hatte.
Einige Sekunden lang blickte er auf das bis zur Unkenntlichkeit zertrümmerte Etwas herab, das zu Lobsangs Grab geworden war, dann machte er sich an den langen, beschwerlichen Weg nach oben.
Er brauchte mehr als drei Stunden für die knapp hundert Meter, und er schaffte es nur, weil sich die Wand als zerklüfteter erwies als er geglaubt hatte. Seine Hände hatten schon nach Minuten unerträglich zu schmerzen begonnen, und die Kälte und der heulende Wind taten ihr bestes, um seine Muskeln hart wie Holz werden zu lassen und jedes bißchen Kraft aus ihm herauszuprügeln. Das Klettern in der Wand aus Eis erwies sich als überraschend einfach, und er fand immer wieder einen Vorsprung, eine Spalte oder einen Grat, auf dem er sich niederlassen und für Minuten neue Kraft schöpfen konnte. Aber die Etappen zwischen diesen Pausen wurden immer kürzer und die Pausen selbst immer länger, so daß er auf dem letzten Viertel des Weges immer nur vier, fünf Meter weit stieg, ehe er sich irgendwo niederließ und versuchte, seinem Körper die so dringend notwendige Rast zu gönnen, ohne dabei einzuschlafen, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Die letzten zehn Meter legte er in einem Zustand zwischen Wachsein und Bewußtlosigkeit zurück, in dem er zu keinem bewußten Gedanken mehr fähig war. Seine blutigen Hände hinterließen eine grausige Spur an der Wand, aber Schmerz und Kälte waren seltsam irreal geworden. Er fühlte sich leicht und irgendwie schwebend, und unter der tödlichen Kälte, die seine Hand und die Muskeln zu Eis erstarren ließ, erwachte etwas, das wie Wärme war, aber verlockender und wohltuender.
Er wußte, was es war. Die Behauptung, daß Erfrieren im letzten Stadium ein sehr angenehmer Tod sein sollte, schien wahr zu sein. Aber er wollte nicht sterben. Nicht hier und nicht so, und auch nicht, bevor er … etwas Bestimmtes getan hatte.
Er erinnerte sich nicht mehr wirklich, was es war. Ein Gesicht tauchte in den grauen Nebeln vor seinen Augen auf. Ein Name. Tamara? Er erinnerte sich nicht wirklich. Er konnte nicht mehr denken. Selbst seine Gedanken schienen zu Eis zu erstarren. Monoton zog er seinen Körper in die Höhe, streckte den Arm aus, bis er irgendwo Halt fand, immer weiter und weiter, wie eine Maschine, die nur zu diesem Zweck konstruiert und zu nichts anderem in der Lage war. Tamara … Er hatte vergessen, wem dieser Name gehörte und was er bedeutete. Aber er war wichtig. Er war der Grund, weswegen er noch lebte und weiterleben mußte.
Irgendwann nach zehn oder auch hundert Millionen Jahren griffen seine tastenden, erstarrten Hände ins Leere, und weitere zehntausend Jahre danach zog er seinen nutzlosen, tonnenschweren Körper über den Rand der Gletscherspalte und brach zusammen.
Schwärze begann die grauen Schleier vor seinem Blick aufzulösen. Das Gefühl tödlicher Wärme in seinem Inneren nahm zu, so verlockend und einlullend, daß seine Kraft nicht mehr reichte, es zurückzudrängen. Er spürte, daß es der Tod war, dessen sanfte Berührung er fühlte. Es war vorbei. Lobsangs Opfer war am Ende doch umsonst gewesen.
Etwas berührte ihn an der Schulter, und irgendwie gab ihm diese Berührung noch einmal die Kraft, den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen. Er wäre nicht erstaunt gewesen, hätte er in das Gesicht eines Skeletts geblickt, das neben ihm stand und sich auf seine Sense stützte.
Statt dessen sah er in ein schwarzes Rohr aus Eisen.
Die grauen Schleier vor seinem Blick lichteten sich weiter, und der schwarze Schlund schrumpfte zu einem knapp einen Zentimeter durchmessenden Rohr zusammen, das eine oder zwei Sekunden später zum Lauf einer Maschinenpistole wurde, die jemand direkt auf sein Gesicht richtete.
Sein Sehvermögen kehrte langsam zurück, so daß er eine Sekunde später zwei in gefütterten weißen Handschuhen steckende Hände erkannte, die die Maschinenpistole hielten, danach die dazugehörigen Arme, die in einem weißen, pelzgefütterten Anorak steckten, und schließlich ein rundliches Gesicht, dessen Augenbrauen sich mit Rauhreif überzogen hatten, so daß es ein bißchen wie das eines japanischen Weihnachtsmannes aussah. Allerdings war es kein Weihnachtsmann. Die gab es in Japan schließlich auch gar nicht.
«Sie sind wirklich ein erstaunlich zäher Bursche, Dr. Jones«, sagte Moto lächelnd.»Jemanden wie Sie zum Gegner zu haben, gereicht mir zu großer Ehre. «Er trat einen Schritt zurück und wedelte auffordernd mit seiner Waffe.»Aber nun stehen Sie bitte auf, Dr. Jones, ehe Sie sich auf dem kalten Boden einen Schnupfen oder gar etwas Schlimmeres holen. Denn das wollen wir doch beide nicht, oder?«
Die Worte erfüllten Indiana mit einem solchen Zorn, daß er für den Moment nicht einmal mehr seine Schwäche spürte. Mit einem wütenden Laut sprang er hoch, stürzte sich auf den Japaner und holte zu einem mörderischen Kinnhaken aus.
Aber natürlich traf er nicht.
Moto trat fast gemächlich einen halben Schritt zur Seite, ließ Indiana an sich vorübertorkeln und schlug ihm den Kolben seiner Maschinenpistole in den Nacken, und Indiana Jones stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden und verlor endgültig das Bewußtsein.
Auf dem Dach der Welt Einige Stunden später
Wie es dem kleinwüchsigen Japaner gelungen war, ihn mehr als eine Meile weit zu tragen, war Indiana ein Rätsel, aber als er mit den schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens und vor Kälte schreienden Finger- und Zehenspitzen erwachte, da befand er sich genau diese Strecke entfernt vom Rand der Gletscherspalte. Moto hatte seinen Fallschirm diesmal nicht achtlos weggeworfen, sondern aus dem Stoff ein kleines Zelt improvisiert, das sie zwar nicht vor der Kälte, aber zumindest vor dem schneidenden Wind schützte. Und auch für einige der Schnüre hatte er eine nützliche Verwendung gefunden: Sie banden Indianas Hand- und Fußgelenke so sicher zusammen, daß er nicht zu der geringsten Bewegung fähig war.
Aber auch ohne Fesseln hätte er sich wahrscheinlich nicht bewegen können. Sein ganzer Körper fühlte sich taub an, und er war nicht sicher, ob ihn dieses Abenteuer nicht einige Zehen oder auch Finger kosten würde. Sein rechtes Knie schmerzte jetzt unerträglich, und sein Gesicht fühlte sich an, als hätte jemand versucht, ihm die Haut in Streifen herunterzuziehen.
Wenn es den gleichen Anblick bot wie seine Hände, dann sah es wohl auch ungefähr so aus.
Er war nicht von selbst erwacht. Moto hatte ihn sanft, aber ausdauernd geohrfeigt, bis ihn der brennende Schmerz die Augen öffnen ließ, und ihn danach solange gerüttelt, bis er sich wankend aufgesetzt hatte. Jetzt hockte er mit angezogenen Knien und zitternd vor Kälte an der Wand aus Eis, die das hintere Drittel ihres improvisierten Zeltes bildete, und starrte den Japaner mit einem Blick an, in den er vergeblich Haß oder wenigstens so etwas wie Wut hineinzulegen versuchte. Er war nur müde, so unendlich müde wie nie zuvor in seinem Leben. Gefühle aufzubringen erschien ihm viel zu mühevoll.
Moto saß knapp zwei Meter im Schneidersitz vor ihm, hatte die Waffe lässig an die Wand neben sich gelehnt und lutschte einen Schokoladenriegel, den er aus den unergründlichen Taschen seines Anoraks zutagegefördert hatte. Eine Weile hielt er Indys Blick ausdruckslos stand, dann zog er einen zweiten, in Stanniolpapier eingewickelten Schokoladenriegel hervor. Indiana schüttelte trotzig den Kopf.
Moto seufzte.»Sie sollten etwas essen, Dr. Jones«, sagte er ernsthaft.»Es ist sehr wichtig, daß Sie Ihrem Körper Nahrung zuführen. Der menschliche Körper verbrennt mehr Energie, wenn es so kalt ist wie hier.«
Indiana wollte nicht antworten. Sprechen war noch viel mühsamer als Denken, und er wußte, daß jedes herausgepreßte Wort Motos Triumph nur noch verstärken würde. Trotzdem murmelte er:»Was soll das, Moto?«Seine Lippen waren so taub vor Kälte, daß er kaum sprechen konnte.»Warum bringen Sie mich nicht endlich um? Macht es Ihnen solchen Spaß, mich zu quälen?«