«Umbringen?«Motos Überraschung war perfekt.»Aber warum sollte ich das, Dr. Jones? Haben Sie unser Abkommen schon vergessen? Wir wollten das Schwert gemeinsam suchen — und das werden wir. Vielleicht töte ich Sie hinterher. Aber jetzt auf keinen Fall.«
«Sie sind ja … komplett wahnsinnig, Moto«, flüsterte Indiana. Er mußte all seine Kraft aufbieten, um nicht nach vorn zu sinken und auf der Stelle einzuschlafen.»Wir sterben doch … sowieso.«
Moto lachte, wickelte den Schokoladenriegel aus, den er Indiana angeboten hatte, und biß hinein.»Für einen Mann von Ihrer Zähigkeit«, antwortete er kauend,»reden Sie sehr oft von Tod und Sterben, finden Sie nicht auch?«
«Und für einen Mann von Ihrer Intelligenz«, antwortete Indiana matt,»sind Sie erstaunlich naiv. Wir werden erfrieren, Moto. Spätestens wenn die Sonne untergeht. Dann wird es hier so kalt, daß Sie an Ihrem eigenen Atem ersticken.«
Moto mampfte genüßlich weiter.»Vielen Dank für das Kompliment, Dr. Jones«, sagte er mit vollem Mund.»Aber was den Rest Ihrer Behauptung angeht, so muß ich Sie leider enttäuschen. Ich denke nicht daran zu erfrieren.«
Indiana versuchte zu lachen, brachte aber nur ein heiseres Krächzen zustande.»Sicher«, sagte er.»Ich nehme an, Sie haben einen Ofen und einen Sack Kohlen in der Tasche.«
«Keineswegs«, erwiderte Moto.»Aber etwas, das beinahe ebenso gut ist. Und entschieden nützlicher. «Er zog den Reißverschluß seines Anoraks herunter und zog eine klobige Leuchtpistole heraus.
Indiana sah ihn fragend an.
«Sie halten mich doch nicht für so dumm, Dr. Jones, daß ich losgeflogen wäre, ohne entsprechende Befehle zu erteilen«, sagte Moto in beinahe vorwurfsvollem Ton. Er lächelte milde und auf eine Art, die Indiana an Lobsang erinnerte.»Ich kann es nicht auf die Minute genau bestimmen«, fuhr er fort,»aber ich nehme an, daß in spätestens zwei oder drei Stunden ein weiteres Flugzeug hier auftaucht. Und dank der Hilfe Ihres dahingeschiedenen Freundes liegen wir ja ziemlich genau auf unserem Kurs, nicht wahr?«
«Sicher«, sagte Indiana düster.»Wenn Sie mit dem Piloten irgendwie Kontakt aufnehmen können, zeige ich ihm gern eine wunderschöne Landebahn.«
Moto lachte amüsiert.»Ich habe Ihre Landung beobachtet, Dr. Jones«, sagte er.»Mein Kompliment. So etwas schafft entweder nur ein Genie — oder ein Vollidiot. Ich frage mich seit Stunden vergeblich, was Sie nun eigentlich sind?«
«Ein Vollidiot«, sagte Indiana leise,»sonst wäre ich nicht auf Sie hereingefallen, göttlicher Sohn.«
Motos Lachen klang noch etwas amüsierter.»Wir sind hier nicht in einer Situation, in der Titel eine Rolle spielen«, sagte er.»Aber um Ihre Neugier zu befriedigen, an der Sie ja schon seit Tagen beinahe ersticken: Das, was ich Ihnen in Hongkong über mich erklärt habe, entspricht offen gesagt nicht ganz den Tatsachen.«
«Was für eine Überraschung«, murmelte Indiana.
«Es würde zu weit führen, Ihnen die genauen Zusammenhänge zu erklären«, sagte Moto herablassend.»Aber ich glaube, wenn ich mich als Mitglied des japanischen Kaiserhauses bezeichne, ist das nicht ganz falsch.«
Indiana war nicht überrascht.»Lobsang hat das gewußt«, vermutete er.
«Ja«, räumte Moto ein.»Fragen Sie mich nicht, wieso, aber er wußte offensichtlich, wer ich bin. Er hat es Ihnen nicht gesagt?«
«Nein«, sagte Indiana.»Hätte er es, dann hätte ich mir wohl auch lieber von diesem Riesenkerl aus Hondos Truppe den Schädel einschlagen lassen, statt weiter mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
Moto seufzte tief, schüttelte den Kopf und begann einen dritten Schokoladenriegel auszuwickeln.»Ich kann Ihre Gefühle verstehen, Dr. Jones«, sagte er.»Aber glauben Sie mir, Sie tun mir unrecht.«
«Sicher«, sagte Indiana.»Sie sind der ehrenhafteste, aufrechteste und netteste Kerl, der mir jemals begegnet ist.«
«Das bin ich wahrscheinlich nicht«, antwortete Moto.»Aber ich bin ein Mann, der seinem Kaiser und seinem Land die Treue geschworen hat und diesen Schwur über alles andere stellt. Ich dachte eigentlich, daß Sie das verstehen würden.«
«Ach?«fragte Indiana böse.
«Ja«, bestätigte Moto.»Und Sie würden es auch verstehen, wenn Sie es sich selbst gestatten würden, Dr. Jones. Wir sind uns viel ähnlicher, als Sie zugeben wollen. Auch Sie würden keine Rücksicht auf Ihr eigenes Leben oder das eines Fremden nehmen, wenn es um das Wohl und Wehe Ihres Landes geht.«
Er sah Indiana aufmerksam und durchdringend an.»Wie würden Sie handeln, wenn nicht ich hier säße, sondern ein Geheimagent der Deutschen? Würden Sie zu einem Nazi auch von Ehre und Aufrichtigkeit sprechen? Was würden Sie tun, wenn die Gefahr bestünde, daß Dschingis Khans Schwert in Hitlers Hände fällt? Würden Sie es ihm geben oder darum kämpfen?«
«Ich würde darum kämpfen«, antwortete Indiana überzeugt.
«Ich würde ihn vielleicht sogar töten, wenn es sein müßte; zumindest würde ich mein eigenes Leben verteidigen.«
«Sie haben schon Menschen getötet«, sagte Moto.»Vergessen Sie nicht, daß ich alles über Sie weiß, Dr. Jones.«
«Das habe ich«, sagte Indiana ruhig.»Aber niemals heimtük-kisch und hinterrücks, Moto. Ich bin kein Mörder, der Schnüre an Fallschirmen durchschneidet, und ich gebe auch nicht mein Ehrenwort, um es dann zu brechen.«
Er sah, daß seine Worte Moto wirklich trafen. Der Japaner sah aufgebracht aus, zugleich aber auch verletzt und beinahe beschämt.»Vielleicht ist das der grundlegende Unterschied zwischen Ihrem und unserem Volk, Dr. Jones«, sagte er ernst.»Wir sind bereit, all diese Dinge zu tun, wenn es sein muß, und hinterher die Konsequenzen zu tragen.«
«So?«fragte Indiana ätzend.»Was werden Sie tun, Moto?
Sich einen Eimer Asche über das Haupt schütten oder Harakiri begehen?«
«Vielleicht«, sagte Moto mit einer Ernsthaftigkeit, die Indiana schaudern ließ. Aber nur für einen Moment, dann gewann sein Zorn wieder die Oberhand.
«Falls Sie dabei Hilfe brauchen, lassen Sie es mich wissen«, sagte er.»Für einen guten Freund tut man schließlich alles.«
Für den Bruchteil einer Sekunde erschien ein mörderischer Glanz in Motos Augen. Automatisch zuckte seine rechte Hand dorthin, wo er wohl normalerweise sein Katana trug, aber er führte die Bewegung nicht einmal zu Ende, sondern lächelte plötzlich und entspannte sich wieder.»Ich muß wiederholen, was ich schon einmal festgestellt habe«, sagte er.»Sie sind ein gefährlicher Mann, Dr. Jones. Sie wissen zu kämpfen. Nicht nur mit Waffen.«
«Das stimmt«, sagte Indiana wütend.»Bei Gelegenheit werde ich Ihnen demonstrieren, wie gut. Sollte ich jemals wieder nach Japan kommen, werde ich eine Menge Mühe und Zeit auf die Ahnenforschung verwenden. Vielleicht finde ich ja ein paar unangenehme und peinliche Dinge über Ihre Vorfahren heraus, die ich herumerzählen kann.«
Moto begann schallend zu lachen, schlug sich auf die Oberschenkel und beruhigte sich erst nach Minuten wieder.»Wirklich, Dr. Jones«, sagte er.»Sie gefallen mir. Es ist zu schade, daß ich es mir nicht leisten kann, Sie am Leben zu lassen. Aber ich verspreche Ihnen, daß Sie einen ehrenhaften Tod haben werden.«
Indiana zog es vor, nicht mehr darauf zu antworten. Es war seine Absicht, Moto zu reizen, allerdings nur weit genug, daß er sich möglicherweise dazu hinreißen ließ, ihm die eine oder andere Information zu geben; nicht so weit, daß er vielleicht handgreiflich wurde. Indys Bedarf an blauen Flecken, Prellungen, Schnitt- und Schürfwunden war gedeckt. Für die nächsten neunundachtzig Jahre.
Moto versuchte noch zwei-, dreimal, ihn mit provozierenden Bemerkungen aus der Reserve zu locken, aber Indiana starrte ihn nur stumm an, so daß sie schließlich beide in brütendes Schweigen versanken.
Die Zeit verstrich träge. Indiana erwog und verwarf in der nächsten Stunde ein gutes Dutzend Fluchtpläne, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit eine Gemeinsamkeit hatten: Sie waren allesamt unmöglich. Sie wären selbst dann unmöglich gewesen, wenn es ihm wider jede Logik irgendwie gelungen wäre, sich seiner Fesseln zu entledigen und Moto zu überwältigen.