Wo sollte er hin? Wie sollte er auch nur eine Nacht in dieser Eiswüste überleben?
Nein — so schwer es ihm fiel, sich mit der Vorstellung abzufinden … seine einzige Chance, am Leben zu bleiben, waren Moto und das Flugzeug, auf das er wartete.
Wenn es kam.
Toshiro Moto war ein ausgezeichneter Schauspieler, soviel hatte Indiana begriffen. Aber es war ihm trotzdem nicht völlig gelungen, seine Unsicherheit zu verbergen. Sie saßen hier nicht auf einer einsamen Insel im Pazifik, sondern in einem der unzugänglichsten Gebirge der Welt. Selbst wenn das Flugzeug kam (was längst nicht sicher war) und selbst wenn es sich auf dem richtigen Kurs befand (was noch viel weniger sicher war), und selbst wenn der Pilot sie sah (was eigentlich am wenigsten sicher war) — wie um alles in der Welt sollte die Maschine hier landen!
Indiana überlegte gerade, welches dieser drei Wenns am ehesten dazu angetan sein mochte, Moto gründlich die Stimmung zu verderben, als sich der Japaner plötzlich aufrichtete und konzentriert einen Moment lauschte.
«Was ist los?«fragte er.
Ohne auch nur mit einem Blick auf Indianas Frage zu reagieren, erhob sich Moto und ging gebückt aus dem Zelt. Indiana hörte den Schnee unter seinen Schritten knirschen — aber es verging noch eine gute halbe Minute, ehe auch er endlich hörte, was den Japaner aufgeschreckt hatte.
Moto mußte über ein sehr viel feineres Gehör verfügen als er, denn Indiana vernahm das Motorengeräusch selbst jetzt nur als feines, fernes Summen, das im Heulen des Windes beinahe unterging.
Moto kam zurück, zog ein Messer und schnitt die Schnüre an Indys Fußgelenken durch. Und er sagte auch weiter kein Wort, sondern warf Indiana nur einen warnenden Blick zu und ging wieder nach draußen.
Es dauerte eine geraume Weile, bis Indiana überhaupt in der Lage war, ihm zu folgen. Seine Beine wollten ihm nicht richtig gehorchen. Er stürzte zweimal, ehe es ihm überhaupt gelang, auf die Füße zu kommen, und jeder Schritt war eine Qual, die ihm schon wieder die Tränen in die Augen trieb.
Als er das Zelt endlich verließ, war das entfernte Summen zum Dröhnen gleich mehrerer Flugzeugmotoren geworden.
Indiana hob den Kopf und blinzelte ins grelle Sonnenlicht. Er identifizierte zwei große, bauchige Transportmaschinen, die von einem ganzen Schwarm Zeros begleitet wurden. Der Anblick erstaunte ihn einigermaßen. Wenn Moto nicht den Verlust all dieser Flugzeuge in Kauf nehmen wollte, dann konnte das nur bedeuten, daß die Maschinen mindestens einmal, wenn nicht öfter zwischengelandet waren, um aufzutanken. In einem Land, das nicht unter japanischer Herrschaft stand; zumindest noch nicht. Toshiro Moto mußte wirklich ein einflußreicher Mann sein.
Die kleine Flugzeugstaffel glitt täuschend langsam über den Himmel. Indiana verlängerte ihren Kurs in Gedanken und kam sehr schnell zu dem Schluß, daß sie in beträchtlicher Entfernung an ihrer Position vorbeifliegen würden; zumindest viel zu weit, als daß eine realistische Chance bestand, daß sie von den Männern dort oben gesehen wurden.
Moto schien zu der gleichen Erkenntnis gelangt zu sein, denn er versuchte erst gar nicht, zu winken oder gar zu rufen, sondern hob seine Leuchtpistole, schob eine Kugel in den Lauf und drückte ab. Noch während die Kugel in den Himmel stieg und dabei zu einer roten Feuerkugel aufblühte, zog er seinen weißen Tarnanorak aus und begann damit zu winken.
Indianas Blick glitt zwischen der Leuchtkugel und den Flugzeugen hin und her. Noch vor wenigen Stunden hätte er über die Behauptung gelacht, aber im Moment freute er sich über nichts mehr als den Anblick der japanischen Flugzeuge.
Die Leuchtkugel wurde gesehen. Eine der Zeros scherte aus dem Verband aus, nahm Kurs auf Moto und ihn und fegte in kaum fünfzig Metern Höhe über das Eisfeld hinweg. Indiana zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, als ein Hagel von Schnee und winzigen Eiskristallen auf sie herunterprasselte. Trotzdem drehte er sich um und blickte dem Flugzeug nach. Die Zero jagte über sie hinweg; der Pilot hatte sie erkannt. Nur einen Augenblick später begann der gesamte Verband seinen Kurs zu ändern und hielt nun direkt auf sie zu.
«Sie haben uns gesehen«, sagte Moto zufrieden, während er umständlich wieder in seine Jacke schlüpfte. Er zitterte vor Kälte, aber seine Augen leuchteten triumphierend.»Nur noch ein wenig Geduld, Dr. Jones. In ein paar Minuten haben wir das Schlimmste hinter uns.«
Er zog seinen Reißverschluß zu, schauderte sichtbar vor Kälte und sah wieder zu den Flugzeugen hinauf.
Der Verband kam langsam näher, hielt aber noch immer nicht direkt auf sie zu. Und nur wenige Augenblicke später wußte Indiana auch, warum. Die Maschinen drehten in den Wind. Eine Anzahl winziger, dunkler Punkte quoll aus den Rümpfen der beiden Transportflugzeuge, stürzte in die Tiefe und blähte sich dann zu weißen Halbkugeln auf.
Fallschirme! dachte Indiana verblüfft — aber auch erschrocken. Das waren Fallschirme!
«Sie … Sie sind ja völlig wahnsinnig, Moto«, flüsterte er.»Die Hälfte Ihrer Männer wird draufgehen!«
«Das ist möglich«, antwortete Moto gelassen.»Große Aufgaben verlangen Opfer- außerdem sollten Sie diese Männer nicht unterschätzen. Es ist eine Eliteeinheit, die ihr Handwerk versteht.«
Gebannt beobachtete Indiana, wie sich die Fallschirme — es waren mindestens fünfzig, und nicht an allen hingen Männer — über den Himmel verteilten und zu sinken begannen.
Es trat ein, was er befürchtet hatte: Die Männer dort oben mochten gut sein, aber das hier war der Himalaya, mit all seinen unberechenbaren Witterungs- und Windverhältnissen, in dem ein Fallschirmabsprung wahrscheinlich gleich hinter bewußtem Selbstmord rangierte. Der Wind riß die Fallschirmspringergruppe auseinander, noch ehe sie den halben Weg zum Boden zurückgelegt hatte. Seine Schätzung war wahrscheinlich noch zu optimistisch gewesen. Das Eisfeld, auf dem Moto und er standen, stellte weit und breit den einzig möglichen Landeplatz für einen Fallschirmspringer dar. Die, die es verfehlten, erwartete ein tödliches Labyrinth aus rasiermesserscharfen Felsen, tödlichen Eissperren und bodenlosen Schluchten und Spalten. Schon daß Moto heil heruntergekommen war, glich einem Wunder.
Die Zero, die über sie hinweggeflogen war, kam zurück — aber irgend etwas stimmte nicht … Sie flog zu schnell, fand Indiana, und zu tief. Die Art, auf die der Pilot flog, erinnerte Indiana eher an einen … Angriff!
Er warf sich im gleichen Moment zu Boden wie Moto, und nicht einmal eine halbe Sekunde später begannen die Maschinengewehre der Zero zu feuern. Heulend jagten die Geschosse über sie hinweg und schlugen nur wenige Meter hinter ihnen in den Schnee.
«Ist der Kerl verrückt geworden?«brüllte Indiana mit überschnappender Stimme.»Moto, was bedeutet das?«Ungeschickt versuchte er, sich mit seinen aneinandergefesselten Händen in die Höhe zu stemmen und fiel wieder auf die Knie herab. Gleichzeitig registrierte er voller Entsetzen, wie eine zweite Zero aus der Formation über ihnen ausbrach und zu einem Sturzangriff ansetzte.
«Moto!«brüllte er verzweifelt.»Was soll das? Was —?«
Der Rest dessen, was er hatte sagen wollen, blieb ihm vor Schrecken im Hals stecken, denn in diesem Moment hatte er es endlich geschafft, sich herumzudrehen — und sah, worauf die Zeros feuerten!
Hinter ihnen stürmten mindestens dreißig oder vierzig Hunnen heran! Moto und er hatten sich so auf die Flugzeuge konzentriert, daß sie nicht einmal gemerkt hatten, daß die Männer hinter ihnen auftauchten.
Auch die zweite Zero begann jetzt zu feuern. Die Kugeln pfiffen so dicht über Indiana hinweg, daß er sich instinktiv tiefer in den Schnee drückte, und die Salve lag genau im Ziel. In einer Explosion aus hochstiebendem Schnee und Eis brachen zahlreiche Hunnen zusammen, aber der Rest stürmte unbeeindruckt weiter. Die Männer schienen Tod und Verwundung so wenig zu fürchten wie die, die Motos Lager angegriffen hatten.