Indiana hatte Mühe, ein schadenfrohes Grinsen zu unterdrük-ken, als die drei auf ihn zuhumpelten. Und den entsprechenden Ton aus seiner Stimme zu verbannen, versuchte er erst gar nicht.
«Sieht ganz so aus, als stünde Ihnen eine aufregende Nacht bevor, Mr. Moto«, sagte er.
Es wurde eine unruhige Nacht. Obwohl keiner der Männer den Yeti innerhalb der nächsten beiden Stunden auch nur zu Gesicht bekam, steigerte sich die gespannte Stimmung unter den Japanern bis Mitternacht zu einem Zustand, der verdächtig nahe an Hysterie grenzte. Drei weitere Soldaten wurden verletzt, weil ihre Kameraden auf Schatten schossen; einer davon so schwer, daß es fraglich war, ob er den Morgen erleben würde.
Und auch an Indiana ging die Anspannung nicht spurlos vorüber — obwohl es weniger Angst war, was er verspürte. Der Anblick des Ungeheuers hatte ihn ebensosehr erschreckt wie Moto und seine Männer, aber viel größer als seine Furcht war die Verwirrung, die der Wissenschaftler in ihm empfand.
Er hatte den Yeti gesehen; zwar nur für eine Sekunde, aber deutlich und aus nächster Nähe. Indiana war kein Anthropologe, aber seine wissenschaftliche Ausbildung sagte ihm sehr deutlich, daß es ein Wesen wie den Yeti einfach nicht geben konnte. Es paßte in keine ökologische Nische, und es war auch nicht einfach nur ein Mittelding zwischen Mensch und Affe. Es war … etwas, das es einfach nicht geben durfte. Er war verwirrt.
Verwirrt und unsicher wie selten zuvor im Leben.
Kurz vor Mitternacht befahl Moto den Männern, die Hälfte des Lagers aufzugeben und sich zu einem dichten Kreis zusammenzuschließen. Sie opferten alles, was sie nicht unbedingt benötigten, um eine Anzahl Feuer zu entzünden, die einen zweiten, hell erleuchteten Kreis um ihr geschrumpftes Lager bildeten, den nicht einmal eine Maus ungesehen passieren konnte.
Es war eine Maßnahme, die sicherlich wirkungsvoll, aber auch sehr riskant war. Die Männer verbrannten einen Teil ihrer dringend benötigten Ausrüstung. Wenn sie Shambala am nächsten Tag nicht fanden, würde die kommende Nacht mehr als hart werden.
Trotz all dieser Sicherheitsmaßnahmen wirkte Moto alles andere als zufrieden, als er kurz nach Mitternacht in das Zelt zurückkehrte, das er mit Indiana teilte. Als Indy ihn darauf ansprach, explodierte er regelrecht.
«Was ich habe?«polterte er los.»Zum Teufel, da fragen Sie noch?«Er gestikulierte zum Zeltausgang hin.»Ich habe eine Armee dort draußen, Dr. Jones! Eine verdammt gute Armee! Jedenfalls habe ich das vor ein paar Stunden noch geglaubt. Und was habe ich jetzt? Einen Haufen zitternder Idioten, der sich gegenseitig die Füße abschießt, weil er Angst vor einem … Gespenst hat!«
«Das war kein Gespenst«, sagte Indiana ruhig.»Ich habe es gesehen. Ihre Männer haben es gesehen. Sie haben es gesehen, Mr. Moto.«
Eine Sekunde lang starrte Moto ihn verwirrt an, dann machte er eine herrische Geste, und der gewohnte, überhebliche Ausdruck trat wieder in seine Züge.»Ich habe etwas gesehen, Dr. Jones«, sagte er.»Genau wie Sie. Ich weiß nicht, was es war.
Vielleicht ein Affe.«
«Es gibt keine Affen im Himalaya«, antwortete Indiana ruhig.»Zumindest keine so großen.«
«Es ist mir gleich, was es ist!«fauchte Moto.»Verdammt, und wenn es der legendäre Yeti ist — was soll’s? Wir werden auch damit fertig, wenn es sein muß.«
Ein dumpfes Grollen drang durch die Zeltplane herein, fast als hätte irgend etwas dort draußen seine Worte gehört.
Aber es war nicht die Stimme des Yeti, es war …
Motos Augen weiteten sich, als er im gleichen Moment wie Indiana begriff.»Das ist …«
«… eine Lawine«, führte Indiana den Satz zu Ende.
«Raus hier!« brüllte Moto.
Hintereinander stürmten sie aus dem Zelt. Auch die Soldaten waren aufgesprungen und blickten mit schreckgeweiteten Augen in die Richtung, aus der das immer lauter werdende Grollen und Dröhnen kam. Indiana spürte, wie das Eis unter seinen Füßen sacht zu vibrieren begann.
Moto schrie einen Befehl, und die Soldaten spritzten in alle Richtungen auseinander. Auch Indiana begann zu rennen, aber er ahnte, daß es ein Wettlauf war, den er nicht gewinnen konnte.
Er hatte recht.
Indiana war kaum hundert Meter vom Lager entfernt, als sich das Rumpeln und Grollen zu einem ungeheuerlichen Dröhnen steigerte. Im Laufen sah er sich um — und was er erblickte, das ließ ihn noch schneller ausgreifen, obwohl er auf dem glatten Boden schon so den Halt zu verlieren drohte. Eine staubige, weiße Wand raste auf Motos Zeltlager zu und verschlang es binnen einer Sekunde — zusammen mit den Männern, die das Pech gehabt hatten, nicht schnell genug oder in die falsche Richtung gelaufen zu sein.
Doch auch Indiana blieben nur noch Sekunden. Mit dem Erlöschen der Feuer hatte sich fast vollkommene Dunkelheit über das Eisfeld gesenkt — aber Indiana sah die Lawine trotzdem noch, wie eine schwarze, massive Wand, die mit der Geschwindigkeit eines Expreßzuges herangedonnert kam und den Boden unter ihm zum Wanken brachte.
Blindlings fuhr er herum, stürmte weiter — und blieb nach ein paar Schritten wieder stehen.
Vor ihm war nichts mehr.
Er stand am Rand einer mehr als fünf Meter breiten Gletscherspalte, deren Boden sich in pechschwarzer Finsternis verlor!
Gehetzt sah er sich um. Die allesverschlingende schwarze Wand der Lawine war vielleicht noch hundert Meter hinter ihm, dann neunzig, achtzig …
Indiana ließ sich auf die Knie herabsinken, suchte mit den Händen nach etwas, von dem er sich wenigstens einreden konnte, daß es ein sicherer Halt war, und ließ die Beine in die Tiefe gleiten. Seine wild tastenden Füße fanden einen Spalt im Eis. Mit jagendem Herzen kletterte er weiter, löste die Hand von ihrem Halt und suchte nach einem neuen.
Die Lawine donnerte über die Gletscherspalte hinweg, kaum daß er den Kopf unter ihre Kante gebracht hatte.
Hinterher wußte er selbst nicht, wie er es geschafft hatte. Es dauerte vielleicht eine Minute, kaum länger, aber für Indiana war es, als vergingen Ewigkeiten, während er sich mit aller Kraft an das Eis preßte. Der Himmel über ihm war erloschen, verschlungen von einer brüllenden Decke aus Schnee und Eis, die alles zermalmend über Indiana hinwegschoß. Die Wand, an die er sich klammerte, wankte und bebte wie ein Schiff im Sturm. Er konnte nicht mehr atmen. Die Luft um ihn war voller feuchtem, pulvrigem Schnee, der ihn zu ersticken drohte. Die Temperaturen sanken schlagartig so tief, daß Indiana spürte, wie jedes Gefühl und jede Kraft aus seinen Fingern wich. Eis und Schnee hämmerten auf seinen Rücken und seine Schultern ein. Noch eine Sekunde, und — Die Lawine war vorbei. Plötzlich war der Himmel über ihm wieder da, und er konnte wieder atmen. Die Eiswand stellte ihre Bemühungen ein, Indiana abzuschütteln.
Unendlich erleichtert legte Indiana den Kopf in den Nacken, schloß die Augen und atmete tief ein, und der Lawine folgte ein Nachzügler in Form eines faustgroßen Schneeballes, der direkt in Indys Gesicht prallte und ihn rücklings in die Tiefe stürzen ließ.
Der Sturz brachte ihn nicht um. Er raubte ihm auch nicht das Bewußtsein. Er tat ihm nicht einmal besonders weh, denn er landete in weichem, nassem Schnee, der seinem Fall den allergrößten Teil seiner Wucht nahm.
Trotzdem blieb er eine Weile benommen liegen, ehe er es wagte, sich behutsam aufzusetzen und ebenso behutsam mit den Fingerspitzen über seinen Körper zu tasten, wie um sich davon zu überzeugen, daß noch alles an seinem Platz und relativ unbeschädigt war. Erst danach wagte er es, ebenso vorsichtig aufzustehen und sich in der Gletscherspalte umzublicken, soweit dies im schwachen Licht der Sterne überhaupt möglich war.