«Aber was können wir zwei allein tun?«fragte Lobsang hilflos.
«Nichts«, gestand Indiana.»Aber wenn wir ihm zuvorkommen und das Schwert wegbringen, dann gibt es keinen Grund mehr für ihn, Shambala anzugreifen. Und wenn wir es nicht schaffen …«Er zuckte mit den Schultern und versuchte aufmunternder zu lächeln, als ihm zumute war.»Vielleicht kann ich euch wenigstens helfen, das Kloster zu verteidigen.«
Lobsangs Blick machte deutlich, was er von diesem Teil seines Vorschlags hielt, aber er behielt seine Meinung für sich und nickte widerwillig.»Also gut«, sagte er.»Ich werde Sie — «
Ein Schuß krachte. Zwischen Indiana und Lobsang spritzte der Schnee auf, und eine Sekunde später erklang ein zweiter Gewehrschuß, der diesmal unmittelbar hinter Indy den Schnee aufwühlte.
Indiana erstarrte zur Salzsäule. Er hatte die Warnung verstanden. Wer immer auf ihn geschossen hatte, hätte ihn schon beim ersten Mal treffen können, wenn er gewollt hätte.
«Sehr vernünftig von Ihnen, Dr. Jones!«schrie eine Stimme.
Sie war dünn, ging halb im Geräusch des Windes unter und kam von weit her, aber er erkannte sie trotzdem sofort.
«Moto«, murmelte er düster.
Lobsang erbleichte vor Schrecken, nahm sich aber ein Beispiel an Indiana und erstarrte ebenfalls zur Reglosigkeit, und aus der Dunkelheit hinter ihnen fuhr Motos Stimme fort:»Bitte, seien Sie auch weiter vernünftig und rühren Sie sich nicht, ehe ich mich gezwungen sehe, Sie und Ihren Begleiter zu erschießen!«
Indiana hob die Hände und drehte sich ganz langsam in die Richtung, aus der die Stimme kam. Er konnte weder Moto noch seine Männer sehen, denn die Nacht lag wie ein dunkler Vorhang vor ihm und verschlang alles, was weiter als fünf oder sechs Schritte entfernt war, aber er zweifelte keine Sekunde daran, daß mindestens ein Dutzend Gewehrläufe auf ihn und den Tibeter gerichtet waren. Und daß Motos Drohung nicht aus leeren Worten bestand. Es gab für den Japaner keinen Grund mehr, ihn oder gar Lobsang am Leben zu lassen.
Eine Anzahl geduckter Schatten tauchte in der Dunkelheit vor ihnen auf. Fünf, sechs, zehn — schließlich mehr als ein Dutzend japanischer Soldaten. Unter ihnen befand sich auch Moto selbst. Der Japaner und seine Soldaten sahen etwas mitgenommen aus, fand Indiana. Kaum einer von ihnen war ohne mehr oder minder schwere Verletzungen davongekommen, aber das schien ihre Entschlossenheit eher noch zu steigern. Indiana rührte sich auch weiter nicht. Er wußte, daß die Männer bei der kleinsten verdächtigen Bewegung das Feuer eröffnen würden.
Moto begann spöttisch zu applaudieren, als er noch fünfzehn Meter entfernt war.»Das war wirklich eine phantastische Vorstellung, Lobsang«, sagte er.»Ich gestehe, daß sogar ich darauf hereingefallen bin. «Er lachte.»Ist das nicht herrlich? Außer dem legendären Schwert des Dschingis Khan werde ich noch etwas aus dem Himalaya mitbringen — nämlich die Antwort auf die Frage, ob es den Yeti wirklich gibt.«
Dann erlosch sein Lächeln. Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf Lobsang.
«Erschießt ihn«, sagte er.
Drei oder vier seiner Männer hoben gleichzeitig ihre Gewehre, und Lobsang verwandelte sich in einen wirbelnden Schatten, der mit unvorstellbarer Schnelligkeit auf Indiana zuraste, gegen ihn prallte — und ihn mit sich über die Kante der Gletscherspalte riß, vor der sie standen.
Wieder war es der frische Schnee der Lawine, der sie vor schweren Verletzungen bewahrte. Indiana prallte dicht neben Lobsang in die weiße Masse. Über sich hörte er Schreie und hastige Schritte, und er hatte sich kaum auf Hände und Knie hochgearbeitet, da erschienen die ersten Schatten am Rand der Spalte und begannen auf sie zu schießen. Rechts und links von ihnen fuhren Kugeln mit einem feuchten Klatschen in den Schnee. Indiana begriff voller Schrecken, daß Lobsang und er vor dem hellen Hintergrund ein hervorragendes Ziel bieten mußten.
Verzweifelt sprang er auf die Füße, zerrte den Tibeter mit sich und versuchte, im Zickzack zu laufen, kam aber kaum von der Stelle, denn seine Füße sanken bei jedem Schritt weit in den Schnee ein. Wieder krachten Schüsse, und diesmal waren die Einschläge noch näher als bei der ersten Salve. Und sobald sich die Soldaten auch nur ein paar Sekunden Zeit nahmen, um wirklich zu zielen, konnten sie sie auf diese geringe Entfernung eigentlich gar nicht verfehlen.
Er erspähte eine Schneewehe an der gegenüberliegenden Wand, aber Lobsang zerrte ihn mit erstaunlicher Kraft in die entgegengesetzte Richtung, obwohl sie sich den Japanern dadurch wieder näherten. Indiana war viel zu durcheinander, um sich zu wehren. Plötzlich war er es, der hinter Lobsang herstolperte. Eine Kugel pfiff so dicht an ihm vorbei, daß er den heißen Luftzug spürte, dann hörte er Motos befehlsgewohnte Stimme, und das Feuer brach für eine Sekunde ab. Die nächsten Schüsse würden treffen, das wußte er.
Plötzlich riß ihn Lobsang nach links, scheinbar direkt auf die massive Wand aus Eis zu. Aber was selbst aus unmittelbarer Nähe wie eine undurchdringliche Mauer aussah, war keine. Indiana hob schützend die linke Hand vor das Gesicht, aber vor ihm war nichts — er stolperte plötzlich beinahe haltlos gegen den Tibeter und wäre gestürzt, hätte Lobsang nicht zugegriffen und ihn im letzten Moment aufgefangen.
Lobsang ließ ihm nicht einmal Zeit, seiner Überraschung Ausdruck zu verleihen, sondern zerrte ihn grob mit sich in die Dunkelheit hinein. Indiana strauchelte immer wieder. Der Boden unter seinen Füßen war spiegelglatt und mußte aus Eis bestehen, und ein paarmal prallte er in der absoluten Schwärze gegen Hindernisse, die er nicht sehen konnte, denen Lobsang aber wie durch Zauberei auswich. Ein paarmal sah er sich im Laufen um. Die Schreie der Japaner und das Geräusch der Schüsse blieben schon nach Augenblicken hinter ihnen zurück, und auch der verwaschene Lichtfleck, der den Eingang in diesen Tunnel im Eis darstellte, verblaßte nach erstaunlich kurzer Zeit, so daß sie durch vollständige Finsternis rannten. Erst als er ganz sicher zu sein schien, daß sie von ihren Verfolgern nicht mehr eingeholt werden konnten, lief Lobsang etwas langsamer und blieb schließlich stehen. Sein Atem ging schnell und schwer, und als er sprach, hatte seine Stimme einen unheimlichen, hohlen Widerhall, der Indiana verriet, daß sie sich in einem sehr großen Raum aufhalten mußten.
«Ich glaube, wir sind vorerst in Sicherheit, Dr. Jones«, sagte er.»Sie werden es nicht wagen, uns hierhin zu folgen.«
«Da wäre ich nicht so sicher«, antwortete Indiana.
Er konnte Lobsangs Kopfschütteln in der Dunkelheit hören, so heftig war es.»Sie wagen es nicht«, sagte er noch einmal.
«Niemand, der sich hier nicht wirklich auskennt, könnte in diesem Stollen überleben. Es ist ein ganzes Labyrinth, in dem man sich hoffnungslos verirren kann.«
«Aber du kennst dich hier aus?«fragte Indiana.
Lobsang wich einer direkten Antwort aus.»Ich werde einen Platz suchen, an dem wir die Nacht verbringen können«, sagte er.»Sobald es hell wird, bringe ich Sie nach Shambala. Dieser Weg ist viel kürzer als der über den Berg, den Moto und seine Männer nehmen müssen.«
«Ich bin nicht besonders müde«, sagte Indiana. Die völlige Dunkelheit und der Gedanke an die ungezählten Tonnen von Eis und Fels, die über ihnen sein mußten, machten ihn nervös.
Seine Behauptung war natürlich gelogen — er war sogar zum Umfallen müde. Aber ihr Vorsprung war einfach zu kostbar, um ihn mit etwas so Banalem wie Schlaf zu vertun. Wenn sie eine Chance hatten, Stunden, vielleicht sogar eine halbe Nacht vor Moto das Felsenkloster zu erreichen, dann mußten sie sie nutzen.
«Trotzdem ist es besser, wir warten ab, bis es Tag wird«, sagte Lobsang.
«Wieso?«fragte Indiana mißtrauisch.
«Nun, ich …«Lobsang zögerte hörbar.»… bin nicht ganz sicher, ob ich den Weg auch in der Dunkelheit finde«, gestand er schließlich.
«Du kennst dich hier nicht aus?«fragte Indiana erschrocken.
Ein heftiges Rascheln erklang aus Lobsangs Richtung, als der Tibeter eine abwehrende Bewegung machte.»Doch, sicher«, sagte er, ein bißchen zu hastig, um Indiana wirklich zu überzeugen.»Es ist nur so, daß dieser Weg unter dem Eis zum Teil keinem anderen Zweck dient, als Eindringlinge zu verwirren.