Lobsang bestand darauf, daß sie eine Rast einlegten, und Indys Protest war eigentlich auch nur ein lahmer Einwand, auch wenn jede Sekunde darüber entscheiden konnte, ob sie oder Moto Shambala zuerst erreichten. Die märchenhafte Schönheit dieser verborgenen unterirdischen Welt täuschte auf den ersten Blick darüber hinweg, wie schwer das Vorwärtskommen in ihr manchmal war. Ganze Strecken mußten sie kletternd oder kriechend zurücklegen. Dieser Weg war vielleicht kürzer als der, den Moto und seine Leute gingen, aber ganz bestimmt nicht leichter.
Sie marschierten eine weitere Stunde, dann betraten sie eine gewaltige, kuppelförmige Höhle, deren Boden hüfttief mit Wasser bedeckt war, aber es war so kristallklar, daß Indiana dies im allerersten Moment nicht einmal bemerkte. Hätte Lobsang nicht warnend die Hand gehoben und er gleichzeitig den eisigen Hauch gespürt, der ihm von der Wasseroberfläche entgegenschlug, dann wäre er vielleicht einfach hineingelaufen.
Ein wenig ratlos sah er sich um. Die Eiskuppel war riesig, aber auch wieder nicht so groß, daß er sie nicht hätte völlig überblicken können. Der Zugang, durch den sie gekommen waren, war der einzige. Sie waren in einer Sackgasse. Vielleicht hatte er Lobsangs Ortskenntnis doch ein wenig überschätzt.
«Und jetzt?«fragte er.
Lobsang lächelte sein übliches, nichtssagend-freundliches Lächeln und deutete nach oben. Die Decke war an dieser Stelle so dünn, daß sie das Sonnenlicht wie eine Kuppel aus milchigem Kristall hindurch ließ. Der winzige, strahlend helle Fleck in ihrem Zentrum war Indiana bis jetzt noch gar nicht aufgefallen; geschweige denn das dünne Tau, das fast bis zur Wasseroberfläche hinabreichte und an dessen Ende ein Eimer hing.
«Shambala, Dr. Jones«, sagte Lobsang.»Wir befinden uns direkt darunter. Dieser See ist das Trinkwasserreservoir des Klosters. «Seine Stimme wurde leiser, und die unheimliche Akustik des unterirdischen Eisdomes verlieh ihr einen nachhallenden Klang, der seine Worte zu einem düsteren Omen machte.
«Ich würde jetzt gern sagen, daß Sie der erste weiße Mann sind, der dies zu sehen bekommt, Dr. Jones, aber ich bin nicht mehr sicher, daß das wirklich die Wahrheit wäre.«
Indy sah, mit welch großem Schmerz Lobsang diese Worte erfüllten, aber es fiel ihm im Moment schwer, die Gefühle des Tibeters nachzuvollziehen. Ihn selbst erfüllte ein ganz anderes Gefühl — nämlich das blanke Entsetzen. Er ahnte, auf welchem Weg Lobsang ihn in das verbotene Kloster bringen wollte. Es war nicht besonders schwer zu erraten.
«Ich nehme nicht an, daß es hier irgendwo einen gut getarnten Aufzug gibt?«fragte er mit einem raschen, nervösen Lächeln.
Lobsang blieb ernst.»Wir werden am Brunnenseil hinaufklettern müssen«, sagte er.»Ist das ein Problem für Sie, Dr. Jones?«
«Das Klettern nicht«, antwortete Indiana. Ohne ein weiteres Wort ging er neben Lobsang in die Hocke und tauchte die linke Hand ins Wasser, um sie so schnell wieder zurückzuziehen, daß selbst Lobsang überrascht zusammenfuhr.
Das Wasser war nicht eisig, es war mörderisch kalt. Seine Hand pochte vor Schmerz. Er war sicher, daß seine Finger einfach abbrechen würden, wenn er versuchte, sie zu bewegen.
«Unmöglich«, sagte er überzeugt.
«Was ist unmöglich, Dr. Jones?«fragte Lobsang, während sich Indiana aufrichtete und behutsam seine Hand zu massieren begann.
«Das Seil«, antwortete Indiana.»Wir kommen nicht hin.«
«Das Wasser ist nicht sehr tief«, sagte Lobsang.
«Aber es ist sehr kalt«, antwortete Indiana.»Zu kalt, Lobsang. Wir sind in zwei Minuten tot, wenn wir dort hineinwaten.«
Lobsang sah sehr enttäuscht aus, aber er mußte wohl auch begreifen, daß Indiana recht hatte, denn er widersprach nicht.
Indiana sah sich suchend in der großen Höhle um. Nichts. Die Wände waren so glatt, als wären sie sorgfältig poliert worden, und dasselbe galt für die Decke. Um dort hinaufzuklettern und den Brunnenschacht zu erreichen, hätte man Saugnäpfe an Händen und Füßen haben müssen. Aber sie konnten auch nicht zurück. Wenn sie überhaupt noch eine Chance hatten, Moto und seinen Soldaten zuvorzukommen, dann mußten sie sie jetzt ergreifen.
Indy sah keine große Chance, löste aber trotzdem die Peitsche vom Gürtel, schwang sie zwei-, dreimal prüfend und ließ das Ende dann nach dem Brunnenseil fliegen. Das Ergebnis hatte er vorausgesehen: Die Peitschenschnur war mindestens zwanzig Meter zu kurz.
«Wenn wir vielleicht nur dieses kleine Stück …«, schlug Lobsang zögernd vor, aber Indiana schüttelte den Kopf.
«Das wäre Selbstmord, Lobsang«, sagte er sanft.»Glaub mir.
Das Wasser würde uns in einer Minute lähmen und in zwei töten.«
«Das ist durchaus möglich, Dr. Jones«, sagte Lobsang. Er lächelte traurig, legte die Fingerspitzen aufeinander und schloß die Augen. Ein dünnes, an- und abschwellendes Summen kam über seine Lippen und wurde zu einem monotonen Summen.
«Ommm mana pat — «
«Tu das nicht, Lobsang«, sagte Indiana.»Das ist Selbstmord!«
«Ommm …«, bestätigte Lobsang, drehte sich mit noch immer geschlossenen Augen herum und ging hoch aufgerichtet und sehr langsam in das eiskalte Wasser hinein.
Gebannt und mit klopfendem Herzen sah Indiana zu, wie der Tibeter in den See hineinschritt. Er rechnete jeden Augenblick damit, daß er einfach zusammenbrechen und im Wasser versinken würde, aber Lobsang schien die mörderische Kälte nicht zu spüren. Ganz langsam näherte er sich dem Brunnenseil, ergriff es und drehte sich um. Indiana beobachtete voller Unglauben, wie er langsam, aber ohne zu zögern und mit fast geschmeidigen Bewegungen zurückkam. Eine Aura eisiger Kälte umgab ihn, als er zurückkam und ihm das Seil reichte.
«Wie … hast du das gemacht?«fragte Indiana fassungslos.
Lobsangs Lippen zitterten. Er wollte etwas sagen, aber er brachte kein Wort hervor. Seine Augenbrauen waren weiß, und auf seiner Haut glitzerte Eis. Sein Gewand knisterte wie trockenes Holz.
Indiana nahm ihm das Seil aus der Hand, löste den Eimer von seinem Ende und rollte es weiter ab, bis er auf Widerstand stieß.
Er ergriff das Seil, zog noch einmal prüfend daran und warf Lobsang einen gleichermaßen auffordernden wie besorgten Blick zu.»Geht es noch?«
Lobsang antwortete auch jetzt nicht, aber seine Lippen zitterten heftiger. Ein qualvoller Ausdruck stand in seinen Augen, obgleich sich in seinem Gesicht kein Muskel rührte.
Indiana tat das einzige, was ihm übrig blieb. Er wertete Lobsangs Schweigen als Zustimmung.»Half dich an mir fest!«sagte er.»Ich versuche, uns beide nach oben zu bringen. Ich hoffe nur, meine Kraft reicht.«
Er konnte die Kälte von Lobsangs Händen und Armen durch seine Kleider hindurch spüren, als der Tibeter seine Hüften umschlang und sich mit erstaunlicher Kraft an ihm festklammerte.
Entschlossen stieß er sich ab, zog die Knie an den Leib und begann Hand über Hand am Brunnenseil in die Höhe zu klettern, noch während sie zur Mitte des Sees hinausglitten. Trotzdem versanken seine — und auch Lobsangs — Beine bis über die Knie im Wasser, während das Seil hin- und herpendelte, bis es schließlich direkt unter dem Brunnenschacht zur Ruhe kam.
Die Kälte tat weh. Indiana stöhnte auf, als der Schmerz wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper pulsierte und ihn zu lähmen drohte. Und trotzdem war es wahrscheinlich gerade das, was ihn rettete, denn der grausame Schmerz machte ihm unbarmherzig klar, welches Schicksal ihn erwartete, wenn er das Seil auch nur für eine Sekunde losließ.
Trotzdem begriff er hinterher selbst nicht, woher er die Kraft genommen hatte, den Brunnenrand zu erreichen. Lobsangs Gewicht zerrte wie eine Tonnenlast an ihm. Das Seil schnitt tief in seine Finger, und von den Knien abwärts waren seine Beine starr und taub vor Kälte.