Wie lange sie brauchten, wußte er nicht. Er wußte auch nicht, wie lange er hinterher zitternd und stöhnend vor Kälte neben dem Brunnenschacht gelegen und mit der drohenden Bewußtlosigkeit gerungen hatte.
Es war die sanfte, doch kraftvolle Berührung von Lobsangs Händen, die ihn schließlich wieder ins Bewußtsein zurückbrachte. Der Tibeter kniete neben ihm. Seine Hände massierten abwechselnd Indianas Brust, Gesicht und Hals, und was immer er tat, es war sehr unangenehm, brachte aber gleichzeitig das Leben in Indianas Körper zurück. Indy stöhnte, versuchte den Kopf zu heben und schaffte es schließlich beim dritten Anlauf.
«Wie fühlen Sie sich, Dr. Jones?«fragte Lobsang. Sein Gesicht war grau.»Glauben Sie, daß Sie sich bewegen können?«
Das einzige, was Indiana allen Ernstes glaubte, war, daß seine Arme und Beine einfach durchbrechen mußten, wenn er auch nur versuchte, sich innerhalb der nächsten zwei Stunden zu bewegen. Trotzdem zwang er sich zur Andeutung eines Nickens, stemmte sich mit zusammengebissenen Zähnen in die Höhe und kam schließlich — wenn auch nur mit Lobsangs Hilfe — auf die Füße. Seine Zähne klapperten heftig, und alles drehte sich für einen Moment um ihn. Er wankte, griff haltsuchend um sich und wurde abermals von Lobsang aufgefangen.
«Bitte versuchen Sie es, Dr. Jones«, sagte der Tibeter eindringlich.»Es ist wichtig. Ich fürchte, wir sind nicht mehr rechtzeitig gekommen.«
Die Worte erfüllten Indiana mit einem Schrecken, den er sich im ersten Moment selbst nicht erklären konnte. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Kälte lähmte alles, selbst den Fluß seiner Gedanken, aber er spürte trotzdem, wie eindringlich Lobsangs Worte gemeint waren.
Mit aller Gewalt zwang er sich, die Augen offenzuhalten und sich umzusehen. Und was er erblickte, das erfüllte ihn mit einer Mischung aus Staunen, ungläubiger Bewunderung — und Entsetzen.
Sie hatten Shambala gefunden, aber es war anders, ganz anders, als Indiana erwartet hatte. Er hatte viele Wunder gesehen, Dinge, die die meisten anderen als schlichtweg unmöglich bezeichnet hätten. Aber niemals etwas wie das hier.
Shambala bestand völlig aus Eis. Der Brunnen, aus dem sie herausgestiegen waren, lag im Zentrum eines kleinen, sechsek-kigen Innenhofs, der von Wänden aus sorgsam bearbeitetem, spiegelglattem Eis eingeschlossen war. Zahlreiche Türen und Fenster befanden sich in diesen Wänden, und die meisten waren von großen Statuen flankiert, die Götter und Dämonen, Drachen und andere Fabelwesen darstellten. Hoch über ihren Köpfen erhob sich das Pagodendach des gewaltigsten Tempelgebäudes, das Indiana jemals gesehen hatte, und auch dieses Dach bestand völlig aus kristallklarem, geschnitztem Eis.
Aber es gab etwas, das den Eindruck, in ein Märchenland verschlagen worden zu sein, nachhaltig störte.
Vor einer der Türen lag ein toter Lama-Priester. Das Eis unter seinem Körper hatte sich rot gefärbt, und die Wand, neben der er zusammengebrochen war, wies eine Anzahl häßlicher, gezackter Löcher auf. In den Schatten hinter der Tür waren die Umrisse eines zweiten reglosen Körpers zu entdecken, und über die Schwelle tropfte ein dünnes, rotes Rinnsal, das sich mit der Blutlache unter dem toten Lama vereinigte.
«Wir sind zu spät gekommen«, flüsterte Lobsang. Aller Schrecken, alles Entsetzen und alle Furcht der Welt schwangen in seinen Worten mit.
Indiana wandte langsam den Kopf und sah den Tibeter an.
Lobsangs Gesicht hatte nun vollends jede Farbe verloren. Seine Lippen zitterten, und seine Hände waren zu Fäusten geballt.
Tränen schimmerten in seinen Augen.»Vielleicht … sind wir noch nicht ganz zu spät«, murmelte Indiana.»Vielleicht können wir sie noch irgendwie aufhalten.«
Lobsang antwortete nicht. Er sah ihn einfach nur voller Trauer an, und nach einer Sekunde senkte Indiana den Blick und sah zu Boden.
In diesem Moment hörten sie in weiter Entfernung das helle, abgehackte Rattern eines Maschinengewehrs. Indiana sah mit einem Ruck auf, und auch Lobsang fuhr zusammen. Ein keuchender, halb erstickter Laut kam über seine Lippen. Seine Augen weiteten sich.
«Die … die Heilige Halle!«flüsterte er.»Sie … sie müssen in der Heiligen Halle sein, die niemals entweiht werden darf!«
Plötzlich fuhr er herum, stieß einen krächzenden Schrei aus und rannte mit weit ausgreifenden Schritten auf eine der Türen zu, so schnell, daß Indiana Mühe hatte, ihm zu folgen.
Sie drangen ins Innere des Tempels ein, das sich als ein wahres Labyrinth von Gängen, Treppen und winzigen, zum größten Teil fensterlosen Kammern entpuppte. Indiana warf im Laufen einen Blick durch eine der Türen und stellte fest, daß offenbar auch hier drinnen alles aus Eis bestand, soweit dies überhaupt möglich war. Mit Ausnahme von Stühlen und niedrigen, mit Bastmatten bedeckten Betten gab es nichts, was nicht aus Eis geschnitzt war. Er fragte sich, wer dieses unglaubliche Gebäude errichtet hatte.
Auch hier fanden sie Tote — zum größten Teil tibetische Mönche, die in die gleichen einfachen Gewänder wie Lobsang gehüllt waren, aber auch Männer in den Fellmänteln und — mützen der Hunnen, die Moto und ihn am Abend zuvor angegriffen hatten. Dazu — allerdings nur einige wenige — japanische Soldaten sowie eine Anzahl anderer Asiaten, die keine Uniform, wohl aber moderne Waffen trugen. Indiana begriff erst nach einer Weile, daß nicht nur Moto und seine Männer, sondern vor ihnen offensichtlich auch schon General Dzo-Lin Shambala erreicht hatte.
Und mit ihm wahrscheinlich Tamara!
Es gab keine Zeit zu verlieren! Er griff rascher aus, holte zu Lobsang auf und stürmte neben ihm eine schmale, aus dem Eis herausgeschlagene Treppe hinauf, die in engen Windungen nach oben führte. Das Rattern des Maschinengewehrs war nicht mehr zu hören, aber dafür hörten sie jetzt immer öfter vereinzelte Schüsse, das Bersten von Eis und das Heulen von Querschlägern, und manchmal schrille, abgehackte Schmer-zens- und Kampfschreie.
Die Treppe wurde immer schmaler. Nach einigen Augenblik-ken fiel Indiana zwei Stufen hinter den Tibeter zurück, und schließlich bückte sich sein Führer durch einen niedrigen Durchgang und blieb so abrupt stehen, daß Indiana fast in ihn hineingerannt wäre.
«Was ist?!«fragte er unwillig.»Wo ist die Heilige Halle, die — «
Lobsang unterbrach ihn mit einer herrischen Handbewegung und deutete hinter sich; gleichzeitig bedeutete er ihm mit einer Geste der anderen Hand, still zu sein. Indiana gehorchte.
Beinahe auf Zehenspitzen ging er an Lobsang vorbei und blickte durch die Öffnung, auf die der Tibeter gedeutet hatte, auf eine unglaubliche Szene herab.
Unter ihm — sicherlich zehn oder fünfzehn Meter unter ihm — lag eine gewaltige, asymmetrisch geformte Halle aus Eis.
Schmale, hohe Fenster in einer der Wände gewährten ihm einen Blick auf ein phantastisches Panorama, in dem sich die Gipfel des Himalaya unter einer Wolkendecke ausbreiteten, die zum Greifen nahe schien. Aber das helle Sonnenlicht, das durch diese Fenster hereinströmte, enthüllte ihm auch einen Anblick schieren Grauens. Die Halle war voller Toter. Auf dem blank polierten Eis des Bodens saßen einige von Lobsangs Brüdern, die Hände vor den Gesichtern gefaltet und die Augen geschlossen, und beteten lautlos, aber eine fast ebenso große Zahl von ihnen lag tot oder sterbend da, und zwischen ihnen entdeckte er die Leichen von japanischen und chinesischen Soldaten, die sich in der Heiligen Halle einen gnadenlosen Kampf geliefert haben mußten. Der Boden war zerfurcht von MG- und Gewehrkugeln, zerbrochenen Schwertern und Bajonetten; Speerspitzen ragten aus dem Eis, und hier und da konnte er die reglosen Körper mongolischer Krieger erkennen. Offensichtlich hatte am Ende jeder gegen jeden gekämpft.
Und der Kampf war noch nicht vorbei. Ein einzelner Mann in einer schmucklosen, schwarzen Uniform hockte hinter einem Altar aus Eis und gab aus einem auf einem Dreibein ruhenden Maschinengewehr kurze, gezielte Feuerstöße auf eine Anzahl Gestalten ab, die sich zwischen den mannsdicken Eissäulen auf der anderen Seite der Eishalle verschanzt hatten. Die Japaner erwiderten das Feuer, trafen aber ebenso wenig wie der Chinese. Indiana vermutete, daß es General Dzo-Lin persönlich war, den er sah.