Dann blieb sein Blick an etwas anderem hängen, das seine Aufmerksamkeit für Momente völlig in Anspruch nahm: An zwei dünnen, silbernen Ketten hing ein schmuckloses Schwert über dem Altar. Ein eigenartiger Glanz schien von der Klinge auszugehen, eine Art leuchtende Aura, die den zerschrammten Stahl umgab. Aber es war kein gutes Licht. Indiana konnte das Gefühl nicht anders in Worte fassen — dieser Schein war irgendwie … böse.
«Das Schwert!«flüsterte Lobsang neben ihm.»Es frißt wieder Menschen!«
Indiana fuhr verblüfft herum. Lobsangs Augen hatten sich vor Entsetzen geweitet; auch sein Blick hing an der schmucklosen Klinge und dem kalten Schein, der sie umgab.»Es frißt wieder Menschen, Dr. Jones«, flüsterte er erneut.»Wir müssen es vernichten!«
Es gab kaum etwas, das Indiana in diesem Moment lieber getan hätte — nur daß er nicht wußte wie.
Er sah wieder in die Halle hinab und bemerkte, daß einige der Ninja-Soldaten sich Dzo-Lin und seinem Maschinengewehr genähert hatten. Der Chinese schoß auf sie, aber die Angreifer fanden hinter den Eissäulen ausreichend Deckung, und Dzo-Lin mußte am Ende seiner Kräfte oder ebenfalls verletzt sein, denn er hatte alle Mühe, das Maschinengewehr zu halten.
Dann entdeckte Indiana etwas, das ihn erneut mit einem Gefühl eisigen Entsetzens erfüllte.
Hinter Dzo-Lin hockte eine zweite, schmale Gestalt. Tamara! Sie saß hoch aufgerichtet und fast ohne Deckung da, ihr Gesicht war starr. Sie schien zu meditieren — oder die Chinesen hatten sie unter Drogen gesetzt, um von ihr zu erfahren, was sie wissen wollten.
Indianas Blick irrte verzweifelt durch die Halle. Der Raum, in dem Lobsang und er sich befanden, war nichts anderes als der Kopf einer gewaltigen, zwölf oder fünfzehn Meter hohen Buddha-Statue, die wie alles hier völlig aus Eis bestand. Es gab eine Anzahl ähnlicher, ebenso gewaltiger Statuen, die die Wände flankierten und zugleich wohl die Funktion von Trägern hatten, und zwischen ihnen hingen schmale, blutrote Gebetsfahnen von der Decke.
Indiana überlegte nicht lange. Es konnte nur noch Augenblik-ke dauern, bis Motos Soldaten Dzo-Lin erreicht hatten.
Und selbst wenn Tamara in dem entstehenden Handgemenge nicht verletzt wurde, würde der Japaner sie hinterher töten lassen.
Er bedeutete Lobsang mit einem Blick, an seinem Platz zu bleiben, zwängte sich durch die Öffnung — die nichts anderes als eines der beiden Augen des Riesenbuddhas darstellte — und sprang mit einem entschlossenen Satz ins Leere. Seine weit vorgestreckten Hände bekamen eine der Gebetsfahnen zu fassen. Den Schwung seines Absprungs ausnutzend, schwang sich Indiana zu einer zweiten Fahne, von dort aus zu einer dritten — und auf den Altar zu!
Dzo-Lin bemerkte den neu aufgetauchten Gegner im letzten Moment und versuchte, sein Maschinengewehr in die Höhe zu reißen, aber das Gewicht der Waffe schien seine Kräfte zu übersteigen. Eine MG-Salve verfehlte Indiana um mehrere Meter und riß Eissplitter aus den Wänden, und die Ninjas nutzten die Gelegenheit, ihre Deckung zu verlassen und auf den Altar zuzurennen.
Indiana erreichte das Schwert, riß es aus den Schlaufen der Kette, schwang zurück … und in diesem Moment riß die Gebetsfahne.
Indiana stürzte, landete unsanft zwischen den Mönchen und duckte sich, als Dzo-Lin mit einem Wutschrei das Maschinengewehr hochriß und beinahe ziellos durch die Halle schoß.
Zwei, drei von Lobsangs Brüdern sackten getroffen und lautlos nach vorn, und auch einer von Motos Soldaten wurde zu Boden gewirbelt und blieb in einer Blutlache liegen. Die anderen stürzten weiter — drei oder vier auf Dzo-Lin zu, der das Maschinengewehr fallenließ und ein Schwert zog, um sich seiner Haut zu wehren, zwei oder drei weitere aber auch in Indianas Richtung. Ein Schuß krachte und verfehlte ihn nur um Haaresbreite, dann zerfetzte eine MP-Salve das Eis unmittelbar vor seinen Füßen, und Indiana wirbelte herum und rannte mit weit ausgreifenden Schritten und im Zickzack auf den nächstliegenden Ausgang zu.
Und blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihm stand Moto.
Der Japaner trug jetzt wieder die blütenweiße Uniform, in der er ihn schon in Schenjang gesehen hatte. Bis auf einen schmalen weißen Streifen um die Stirn hatte er sämtliche Verbände abgelegt, und er trug auch keine Maschinenpistole mehr, sondern die schimmernde Klinge seines Samurai-Schwerts in der Rechten.
«Dr. Jones!«sagte er ruhig.»Welche Überraschung. Ich habe nicht damit gerechnet, Sie noch einmal wiederzusehen.«
«Dieselbe Hoffnung hatte ich auch«, antwortete Indiana nervös. Er sah rasch über die Schulter zurück. Die Soldaten waren ihm gefolgt, allerdings in zwei, drei Schritten Entfernung stehengeblieben. Was sie nicht daran hinderte, ihre Gewehre auf Indianas Kopf und Rücken gerichtet zu halten.
Moto bemerkte seinen Blick und lächelte.»Keine Sorge, Dr. Jones«, sagte er.»Sie werden Ihnen nichts tun. «Er hob die Hand, machte eine rasche, komplizierte Geste und sagte einige Worte auf japanisch, und Indiana konnte hören, wie die Männer hinter ihm die Waffen senkten und sich ein paar Schritte weit zurückzogen.
Auch Moto machte einige Schritte — auf ihn zu. Und er hob dabei sein Samurai-Schwert. Langsam, mit einer fast zeremoniellen Bewegung und einer angedeuteten Verbeugung, bei der er Indiana jedoch keine Sekunde aus den Augen ließ, legte er beide Hände um den langen Griff des Katana und berührte mit der flachen Seite seine Stirn.
«Erinnern Sie sich, was wir verabredet hatten, Dr. Jones?«fragte er.»Der bessere Mann soll das Schwert bekommen.«
Und damit stürzte er auf Indiana los.
Seine Bewegung war so schnell und gleitend, daß Indy sie nicht einmal wirklich sah. Er wußte, daß er keine Chance hatte. Nicht gegen diesen Mann. Schließlich war er Doktor der Archäologie und kein Samurai, der die Schwertkunst in einem Alter erlernt hatte, in dem andere noch mit ihren Teddybären spielten. Trotzdem riß er ganz instinktiv die Klinge hoch und versuchte, Motos Hieb zu parieren.
Und es gelang ihm.
Dschingis Khans Schwert prallte mit solcher Gewalt gegen Motos Katana, daß der Samurai mit einem überraschten Keuchen zurücktaumelte und nur mit Mühe sein Gleichgewicht hielt. Ungläubig starrte er Indiana an, dann das Schwert in dessen Hand, und auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck fassungsloser, vollständiger Verblüffung breit.
Aber nur für eine Sekunde. Dann verzerrten sich seine Züge vor Wut. Er schwang die tödliche Klinge hoch über dem Kopf und griff ein zweites Mal an.
Es war nicht Indiana Jones, der Dschingis Khans Schwert führte — es war die Klinge, die ihn mit sich riß. Ein Gefühl unglaublicher Stärke durchflutete Indy, während er nach vorn sprang, das Schwert in einem eleganten, blitzartigen Bogen nach oben und zur Seite riß — und Motos Katana mit solcher Gewalt traf, daß der als unzerbrechlich geltende Samurai-Stahl mit einem gewaltigen Klirren zersplitterte.
Diesmal ging Moto wirklich zu Boden. Er taumelte rückwärts, fiel ungeschickt nach hinten und blieb fast eine Sekunde reglos liegen. Wieder glitt sein Blick über Indianas Gesicht, und endlich schien er zu begreifen, daß es nicht Indianas Kraft war, die er spürte, sondern eine ältere, unendlich stärkere Gewalt.
Und auch Indiana spürte diese Kraft, ein Pulsieren von Energie, das ihn durchfloß und das auf eine völlig andere Art ebenso unangenehm und böse war wie das kalte Leuchten, das das Schwert über dem Altar umgeben hatte. Er fühlte sich unverwundbar, und tief in seinem Inneren spürte er, daß er es auch war, solange er dieses Schwert in der Hand hielt, aber er spürte auch die Gier der verzauberten Waffe, ihr dunkles, pochendes Herz, das nach Blut und Tod schrie und allmählich Macht über seine Gedanken zu gewinnen begann.