«Was, zum Teufel, ist eigentlich passiert?«fragte er.»Ich kann mein Bein kaum noch fühlen.«
«Lobsangs Brüder haben es wahrscheinlich etwas zu gut gemeint«, sagte Tamara. Sie beugte sich vor, streckte die Hand nach dem Verband aus und zog sie wieder zurück. Sie zögerte eine Sekunde, dann wandte sie sich an den Mann neben sich und sagte ein paar Worte auf russisch zu ihm, woraufhin er sich erhob und mit raschen Schritten nach vorn ging und in der Pilotenkanzel verschwand.
Indiana wollte eine Frage stellen, aber Tamara schüttelte rasch den Kopf, löste eine Ecke seines Verbandes und bedeutete ihm mit einer stummen Geste hinzusehen.
Indiana sog überrascht die Luft ein. Was er für eine drei Nummern zu groß geratene Schiene gehalten hatte, war in Wirklichkeit die grifflose Klinge eines uralten, zerschrammten Schwertes, die in mehrere Lagen Stoff gewickelt worden war. Indiana riß verblüfft Mund und Augen auf, wagte es aber nicht, etwas zu sagen, und Tamara befestigte das Stück Stoff rasch wieder, so daß es das schimmernde Metall verbarg.
«Aber wieso …?«murmelte Indiana.
«Wir konnten es doch nicht im Eis zurücklassen«, antwortete Tamara. Ihr Blick war sehr ernst, nur in ihren Augen war schon wieder eine ganz sanfte Spur von Spott, als sie fortfuhr:
«Tibetische Klöster sind auch kein sicherer Ort mehr. Wir müssen ein besseres Versteck dafür finden.«
Indiana war schlichtweg sprachlos. Aber nur ein paar Momente lang. Dann begann er zu grinsen, und nachdem er Tamara von seiner Idee erzählt hatte, fiel auch sie in sein Grinsen ein.
Vier Tage später, nachdem Indiana Jones eine Unzahl von Händen geschüttelt, eine Unzahl von Bruderküssen ausgetauscht und sich eine Unzahl von Lobeshymnen angehört hatte, nachdem er zum vermutlich zweihundertsten Mal die gleiche, abenteuerliche Geschichte von seiner und Tamaras Flucht und dem Kampf gegen Motos Soldaten und Dzo-Lins Rebellenarmee erzählt hatte — eine Geschichte, bei der sie bis auf zwei Punkte streng bei der Wahrheit geblieben waren (diese beiden Punkte waren die genaue Lage Shambalas und die Tatsache, daß sowohl er als auch Tamara überzeugend versicherten, Dschingis Khans Schwert wäre letzten Endes doch nicht mehr als eine Legende gewesen), war der Moment des Abschieds gekommen.
Tamara hatte es übernommen, ihn mit ihrem Privatwagen zum Flugplatz zu fahren, wo eine eigens für ihn gecharterte Maschine bereitstand, um ihn nach Paris zu bringen, wo er das Flugzeug nach New York besteigen würde, und niemand hatte etwas dagegen gehabt, dem berühmten Dr. Indiana Jones noch einen letzten Wunsch zu erfüllen: nämlich den im Entstehen begriffenen Flügel des Moskauer Museums zu besichtigen, von dem ihm Sverlowsk auf der Cocktail-Party in Washington erzählt hatte.
Was er zu Gesicht bekam, beeindruckte ihn wirklich. Die Halle war noch nicht offiziell eröffnet, und ein Drittel der Ausstellungsstücke befand sich noch in Kisten und wartete darauf, ausgepackt und irgendwo in der endlosen Reihe aus Glasvitrinen und Schränken aufgestellt zu werden. Indiana heuchelte großes Interesse und ließ sich beinahe eine Stunde lang von seinen Führern quer durch die vollgestopften Gänge und Hallen schleifen, bis er glaubte, der Höflichkeit Genüge getan zu haben. Als sie sich wieder auf den Ausgang zu bewegten, blieb er wie durch Zufall noch einmal stehen und betrachtete ein schmales, hoch oben an der Wand aufgehängtes Schwert ohne Griff.
Indiana lächelte, legte Tamara den Arm um die Taille und drückte sie sanft an sich. Sie verloren kein Wort über das, was da vor ihnen an der Wand hing, aber wahrscheinlich dachten sie in diesem Moment beide dasselbe: nämlich daß, wenn es so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals gab, diese Macht einen gewissen Sinn für Humor haben mußte. Gab es einen besseren Ort, um dieses Schwert für alle Zeiten aufzubewahren?
Sie verließen die Halle, aber bevor sie es taten, blieb Indiana noch einmal stehen, sah zu dem Schwert empor und las das kleine, handgeschriebene Schild darunter, das in Kyrillisch und Englisch verkündete:
«Schwert. Mongolisch. Vermutlich 11. Jahrhundert. Fundort unbekannt.«