Indiana wehrte sich so gut er konnte, aber der Russe war ihm hoffnungslos überlegen, und Wut und Schmerz gaben ihm noch zusätzliche Kraft. Er hörte Tamara irgend etwas schrill und auf russisch rufen, aber sein Gegner schien seiner Muttersprache plötzlich nicht mehr mächtig zu sein, denn er schlug und drosch weiter auf Indiana ein, und er hätte wahrscheinlich noch lange nicht damit aufgehört, wäre da nicht plötzlich eine zweite, sehr viel schärfere Stimme gewesen, die etwas von der Tür her schrie.
Zwar verstand Indiana die russischen Worte nicht, aber sie waren ohnehin für den Angreifer bestimmt. Der Mann stieß Indy mit einem letzten Schnauben zurück und sprang wieder auf die Beine. Indiana wollte es ihm nachmachen, knickte aber sofort wieder ein. Er fiel nach vorn, prallte mit dem Gesicht auf einen dicken Teppich, der seinem Sturz sehr viel weniger von seiner Wucht nahm, als ihm recht war, und wälzte sich mühsam auf den Rücken.
Ein schlanker, sehniger Russe mit kurzgeschorenem Haar stand breitbeinig über ihm. Einen Moment lang blickte er mit fast wissenschaftlichem Interesse — und sehr wenig Mitleid — auf ihn herab, dann murmelte er ein einzelnes Wort in seiner Muttersprache, reichte Indy die Hand und zog ihn hoch. Sein Griff war so fest, daß Indianas Hand hörbar knirschte. Er verbiß sich den Schmerz und ließ sich von dem Russen auf die Beine helfen, während dieser einige rasche Worte mit Tamara wechselte.
Indiana wischte sich mit dem Handrücken über die aufgeplatzte Lippe. Er wußte, daß es zu ernsten diplomatischen Verwicklungen kommen konnte, wenn man ihm sein Handeln als Angriff auf sowjetische Armeeangehörige anlastete. Ganz gleich, warum er es getan hatte. Marcus würde toben, wenn er hörte, was hier geschehen war.
Aber sein Gegenüber schien nicht nachtragend zu sein. Dazu hatte er auch gar keine Zeit, wie Indiana an seinem leicht gehetzt wirkenden Blick erkannte.
«Doktor Jones?«richtete der Russe das Wort an ihn.»Keine Zeit für lange Erklärungen. Sie und Kommissarin Jaglova müssen das Gebäude schnellstens verlassen.«
«Was ist geschehen?«Tamara trat mit einem raschen Schritt zwischen Indiana und den Russen. Fast beiläufig registrierte Indiana, daß sie die Frage in englisch gestellt hatte, was in dieser Situation eigentlich ungewöhnlich war; zumal sie sich eine Sekunde zuvor noch mit dem Mann in ihrer Muttersprache unterhalten hatte.
Der Russe salutierte knapp.»Eine Bombendrohung, Genossin Kommissar«, erklärte er nun doch.»Wir erfuhren vor Minuten erst von einem geplanten Attentat auf Sie.«
«Ein Attentat?« Tamaras Augenbrauen rutschten ein Stück nach oben.»Genosse Sverlowsk hat keine Feinde hier, und — «
Sie stockte. Ein verblüffter Ausdruck breitete sich auf ihren Zügen aus.»Sagten Sie — auf mich! Aber das ist doch Unsinn!
Ich meine … wer sollte mir etwas tun wollen?«Sie lachte, aber es klang ein bißchen zu gekünstelt, um ihren Schrecken ganz zu verbergen.
«Vielleicht nicht Ihnen«, sagte Indiana. Tamara drehte sich mit einem Ruck zu ihm herum, und Indiana deutete mit einer Kopfbewegung auf die schmale Aktenmappe, die sie noch immer unter dem Arm trug, und fuhr fort:»Ich weiß zwar immer noch nicht, warum Sie mich zu diesem kleinen Tete-à-tete hierhergebracht haben, Tamara — aber könnte es etwas damit zu tun haben?«
Tamara wurde ein bißchen blaß, aber der junge Soldat nickte heftig.»Das könnte sein, Dr. Jones. Ein Grund mehr, daß Sie dieses Gebäude so schnell wie möglich verlassen. Wenn ein Anschlag auf Sie geplant ist, Genossin Jaglova, dann befindet sich diese Bombe mit hoher Wahrscheinlichkeit — «
«— genau hier«, führte Indiana den Satz zu Ende.»In diesem Raum.«
Tamara starrte ihn aus aufgerissenen Augen an, aber Indiana ließ sie nicht zu Wort kommen, sondern fuhr ohne Unterbrechung und in einem Ton, den der russische Soldat sofort verstand, fort.»Okay, Towarisch, hör zu: Schaff Tamara hier raus.
Und ich sorge dafür, daß die Leute von der Tür weggehen.«
«He!«protestierte Tamara, aber Indy ignorierte sie einfach.
«Schnell. Und möglichst unauffällig. Das letzte, was wir jetzt brauchen können, ist eine Panik.«
Der junge Soldat nickte knapp. Er hatte Indianas Worte nicht nur verstanden. Indy hatte auch einen Ton angeschlagen, den er kannte. Wenn es etwas gab, das russische Soldaten gelernt hatten, dann war es gehorchen. Und in Indianas Stimme war von einer Sekunde auf die andere eine ruhige, überlegte Autorität, die nicht nur ihn, sondern auch Tamara zu beeindrucken schien, denn sie sah ihn eine Sekunde lang verblüfft an. Aber wirklich nur eine Sekunde.
«Wenn ich vielleicht auch einmal etwas — «begann Tamara, um diesmal von ihrem eigenen Landsmann unterbrochen zu werden.
«Wir haben einen Bombenspezialisten in unserer Truppe, Dr. Jones. Ich werde ihn herschicken.«
«Tun Sie das«, sagte Indiana.»Aber schnell.«
Tamara setzte zum dritten Mal dazu an, etwas zu sagen, aber Indiana ergriff sie am Arm, öffnete mit der anderen Hand die Tür und schob Tamara und den jungen Soldaten einfach aus dem Zimmer. Er registrierte mit Sorge, daß die Evakuierung des Ballsaales noch keine sichtbaren Fortschritte gemacht hatte.
Noch immer hielten sich Hunderte von Menschen dort draußen auf. Verdammt, hätte er es nicht besser gewußt, dann hätte er geschworen, daß es mehr geworden waren statt weniger!
Er schloß die Tür und sah sich mit klopfendem Herzen um.
Der Raum war riesig, aber fast leer. Es gab einen wuchtigen Kamin aus Marmor und Eichenholz und einen gewaltigen Tisch mit gut drei Dutzend Stühlen, in der gegenüberliegenden Wand eine Reihe deckenhoher, eingebauter Regale voller kostbarer Bücher und einen kleinen Servierwagen voller Gläser und Flaschen gleich neben der Tür. Das war alles.
Indiana Jones war nicht sehr geübt darin, sich in die Denkweise von Attentätern hineinzuversetzen, aber er besaß einen gesunden Menschenverstand, und der sagte ihm, daß es nur eine einzige Stelle in diesem Raum gab, an dem man sinnvoll eine Bombe verstecken konnte: den Tisch.
Behutsam ging er in die Hocke, streckte sich dann ganz auf dem Boden aus und schob sich auf dem Rücken liegend unter das Möbel.
Er kam fast genau unter dem flachen, mit Klebeband befestigten Paket zu liegen, das unter der zolldicken Eichenplatte des Tisches angebracht war. Mit fliegender Hast löste er eines der Bänder, zwängte die Finger darunter und spannte die Muskeln, um es mit einem Ruck völlig abzureißen.
«An deiner Stelle würde ich das nicht tun«, sagte eine Stimme.
Indiana erstarrte mitten in der Bewegung, dann wandte er vorsichtig den Kopf. Tamara kniete neben dem Tisch und blickte stirnrunzelnd auf das Päckchen über seinem Gesicht.
«Was tust du hier?«fragte er erschrocken, wie sie ganz automatisch zum vertrauten ›Du‹ überwechselnd. In einer Situation, in der sie vielleicht gemeinsam zur Hölle fahren würden — oder wohin immer sich eine atheistische Russin in einem solchen Fall begab —, erschien ihm das nur angemessen.
«Wenn du noch ein bißchen fester an dem Klebestreifen ziehst, wirst du die Antwort auf diese Frage vermutlich nie mehr hören«, antwortete Tamara.
Indiana spürte, wie jedes bißchen Farbe aus seinem Gesicht wich. Langsam, Millimeter für Millimeter, zog er die Finger wieder zurück.»Bist du … sicher?«
«Nein«, antwortete Tamara.»Aber wenn ich diese Bombe gebaut hätte, dann hätte ich dafür gesorgt, daß niemand einfach so nachsehen kann, was wohl in diesem Paket ist. Rühr dich nicht vom Fleck.«