»Passen Sie auf sich auf«, rief Atkins ihm hinterher.
Rasch marschierte Indy die beiden Blocks hinunter, bog nach rechts ab und ging vier von Osten nach Westen verlaufende Blocks weiter, bis er sich wieder verlaufen hatte. Nirgendwo ein Zeichen von einem Lebensmittelgeschäft, nur eine Reihe dunkler Gebäude. Er versuchte, den gleichen Weg zurückzugehen, fand die Straße aber nicht mehr, von der aus er gestartet war.
Insgeheim schämte er sich seines mangelnden Orientierungsvermögens .
»Das ist doch lächerlich«, murmelte er. »Ich finde jede Pyramide auf der Welt, finde rein und wieder raus, ob in Afrika oder sonstwo, aber hier verlaufe ich mich schon nach ein paar Straßen.«
Er ging weiter.
In der Mitte des nächsten Blocks stand ein Gebäude, das den Seiten eines Dickens-Romans entsprungen zu sein schien. Und da gab es ein Geschäft mit einem Licht im Fenster. Drinnen beugte sich ein Mann, der einem Mönch ähnelte, über einen Tisch und las aufmerksam in einem Buch, das jeden Moment zu Staub zu zerfallen drohte.
Indy warf einen Blick auf den Namen über der Eingangstür: CADMAN'S SELTENE BÜCHER, 611 W. 34. STRASSE. TELEFON BRYANT 5250. >EIN GUTES BUCH IST WIE EIN GUTER FREUND< - MARTIN TUPFER. Ein handgeschriebenes Schild im Schaufenster verkündete: ZIMMER.
Indy klopfte an die Eingangstür.
Der Mann war entweder so vertieft in sein Buch, daß er keinen Finger rühren konnte, oder er versuchte, Indy zu ignorieren.
Indy klopfte noch mal fest an die Scheibe.
Mit angewidertem Blick markierte der Mann seine Lesestelle im Buch, legte es vorsichtig beiseite und wuchtete sich von seinem Stuhl hoch. Er trank einen Schluck kalten Tee aus der Tasse auf dem Tisch und humpelte dann den Gang zur Tür hoch. Er zeigte auf das GESCHLOSSENSchild und schüttelte den Kopf.
»Ein Zimmer«, sagte Indy und deutete auf das Schild. »Ich möchte ein Zimmer.«
Weil die Hochbahn in diesem Moment vorüberfuhr, konnte der Mann ihn nicht verstehen.
Noch ungehaltener als zuvor drehte der Mann den Hebel des Sicherheitsschlosses auf und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Nun war es eine Kette, die Indy den Zutritt versperrte.
»Ich habe den anderen schon alles gesagt, was ich weiß«, sagte der Mann.
»Nein, Sie verstehen nicht -«
»Wir haben geschlossen. Kommen Sie morgen wieder. Oder am besten gar nicht mehr.«
»Aber -«
»Ich weiß nicht mehr über Voynich«, beklagte sich der Mann lautstark.
Indy steckte den Fuß in den Türspalt.
»Voynich?«
»Ja, Voynich«, sagte der Mann. »Hören Sie, möchten Sie, daß ich die Polizei hole? Bitte lassen Sie mich in Ruhe. Ihr Typen seid echt ermüdend. Sind Sie ein Dummkopf, oder verstehen Sie kein normales Englisch? Wir haben geschlossen. Nehmen Sie Ihren Fuß weg, oder ich knalle Ihnen den ersten Band des Oxford unabridged drauf. Damit kann man Zehen brechen, nur damit Sie' s wissen.«
»Nein, bitte«, flehte Indy. »Entschuldigen Sie meine Umgangsformen. Ich bin eigentlich nur hier, um ein Zimmer zu mieten. Ihr Schild«, erinnerte er sein Gegenüber.
»Oh«, sagte der Mann. »Es ist schon ziemlich spät.«
»Darum bin ich ja so verzweifelt.«
»Wo ist Ihre Tasche? Ich vermiete nicht an Fremde ohne Gepäck.«
»Ich fürchte, ich habe mich verlaufen.«
»Verlaufen?«
»Ja, so ziemlich.«
Der Mann grunzte.
»Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?«
»Ich bin Archäologe.«
»Und man hat Sie ganz allein losgeschickt?«
»Ich arbeite niemals ohne einen Führer.«
Endlich öffnete der Mann die Tür.
»Zwei Dollars die Nacht«, erklärte er. »Die Zimmer sind
oben, das Bad liegt am Ende des Flurs. Kein Frühstück. Rauchen und Trinken sind in den Zimmern nicht erlaubt. Es gibt eine Treppe, die nach oben führt. Kommen Sie rein, ich werde Ihnen einen Schlüssel geben.«
»Danke«, sagte Indy und meinte es auch so.
Der Mann riegelte hinter ihnen die Tür ab.
Das war der unordentlichste Laden, den Indy je gesehen hatte. Überall standen und lagen Bücher herum, auf dem Boden und auf den Tischen und in Stapeln vor den ohnehin schon überfüllten Regalen. Von der Eingangstür führte ein Trampelpfad zu einem Schreibtisch und zu ein paar Stühlen in der Mitte des Geschäfts und dann weiter zu der Treppe im hinteren Bereich. Alles war von einer dicken Staubschicht überzogen. Der Geruch vergilbter Bücher hing in der Luft. Der Staub und Geruch machten Indy zu schaffen; er hatte das Gefühl, jeden Augenblick niesen zu müssen.
»Mein Name ist Cadman - Roger Cadman«, stellte der Mann sich vor. »Lassen Sie sich nicht von dem Aussehen des Ladens in die Irre führen. Wir erledigen unsere Geschäfte größtenteils per Post. Meistens verkaufen wir an Sammler. Passanten schauen nur selten rein. Hatte letzte Woche diese beiden Parteien, die beide nach diesem verdammten Manuskript fragten. Hat mich fast um den Verstand gebracht. Hab' schon mit dem Gedanken gespielt, die ganze Ladenfront schwarz anzumalen, mit nur einer Nummer darauf.«
»Das Manuskript?« erkundigte sich Indy. »Voynich?«
»Ja«, sagte der Mann. »Sie kennen es?«
Indy nickte.
»Voynich war einer meiner Konkurrenten«, verriet Cad-man. »Damals in der guten alten Zeit, als wir uns alle in
Europa rumtrieben und uns wegen Bücherkisten in die Haare kriegten, die alle anderen wertlos fanden. Für all den Scheiß bin ich inzwischen zu alt.«
»Dem Aussehen nach aber nicht«, fand Indy.
»Vielleicht bin ich auch einfach nicht mehr mit dem Herzen dabei«, stimmte Cadman zu. »Im Krieg wurden so viele wertvolle Dinge vernichtet. Ihr Geld, bitte.«
»Was?«
»Zwei Dollars.«
Indy zückte seine Brieftasche und händigte ihm das Geld aus. Cadman nahm einen Schlüssel aus der Schreibtischschublade und drückte ihn Indy in die Hand.
»Nummer Sieben, am Ende des Korridors.«
»Könnten Sie mir vielleicht noch ein bißchen mehr über Voynich erzählen?« fragte Indy nach. »Ich meine, nur falls es Sie nicht stört. Das FBI ist zu mir gekommen -«
»Die waren auch hier«, sagte Cadman. »Zwei ziemlich brüske Kerle -«
»Bieber und Yartz?«
»Ja! Sie taten gerade so, als ob ich etwas verbergen würde, obwohl ich ihnen alles verriet, was ich wußte. Und dann tauchten hier noch diese Italiener in komischen Uniformen auf.«
Indy schnürte es die Kehle zu.
»Uniformen?«
»Grau und schwarz abgesetzt«, meinte Cadman. »Sahen wirklich ziemlich komisch aus. Kennen Sie sie?«
»Wir sind uns über den Weg gelaufen«, preßte Indy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Haben bei Ihnen anscheinend denselben Eindruck hinterlassen wie bei mir. Ich sagte ihnen, falls sie wieder einmal den Drang verspürten, Bücher zu verbrennen, dann sollten sie sich an das gräßliche Zeug halten, das dieser Mussolini zu Papier bringt.«
»Die Faschisten haben keinen Sinn für Humor«, sagte Indy. »Haben sie sich vorgestellt, Namen genannt? Oder vielleicht eine Visitenkarte dagelassen? Oder eine Adresse oder Telefonnummer, wo man sie erreichen kann?«
»Nichts«, antwortete Cadman. »Ich konnte mit den Uniformen nichts anfangen. Daß sie Italiener waren, erkannte ich nur an ihrem Akzent. Sie scheinen auf jeden Fall Intellektuelle zu hassen. Nicht, daß ich mich selbst für einen hielte, aber -« Er hob einen Stapel Bücher von einem Stuhl.
»Nehmen Sie Platz«, bot er an. »Möchten Sie Tee? Ich könnte frischen machen.«
»Das wäre aber wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen.« Langsam verspürte er wieder so etwas wie eine leise Hoffnung.