Indy setzte sich, während Cadman einen Kessel auf eine Herdplatte stellte. Als das Wasser kochte, brühte er jedem von ihnen eine Tasse auf. Indy bekam einen neuen Teebeutel, für sich verwendete er den alten.
»Lassen Sie mich Ihnen gegenüber ganz ehrlich sein«, sagte Indy zu seinem Hotelier. »Mein Interesse an Voynich ist nicht nur akademischer Natur. Das FBI hat mich gebeten, ihnen bei der Wiederbeschaffung behilflich zu sein, und ich hatte ein ziemlich unerfreuliches Zusammentreffen mit diesen Faschisten in grauen Uniformen. Möglicherweise besteht da ein Zusammenhang.«
»Ich vermutete, daß es gestohlen worden sein mußte«, sagte Cadman, »aber keine der beiden Parteien hat das bestätigt. Wie begründete das FBI noch seine Fragen? Hintergrundinformationen sammeln, denke ich. Nein, es stört mich nicht, mich mit Ihnen über Voynich zu unterhalten, weil Sie die Wichtigkeit dieser Dinge verstehen. Das FBI tat so, als handle es sich bei dem Manuskript um einen gestohlenen Wagen - Farbe, Modell, Marke, Wert - während es den Faschisten darum ging, wie man es entschlüsseln kann.«
»Entschlüsseln kann?«
»Ja. Die besten Köpfe haben Jahre damit zugebracht, das Ding zu entziffern, und diese Typen hatten offenbar den Eindruck, es müßte so etwas wie ein Wörterbuch oder so was geben.«
»Ich fürchte, daß ich wahrscheinlich auch nicht mehr darüber weiß«, gab Indy zu. »Könnten Sie von Anfang an erzählen? Wer hat es gefunden und wo?«
»Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hielt Voynich die Einzelheiten des Fundes geheim«, begann Cadman. »Er verstarb vor drei Jahren. Doch ein paar Monate vor seinem Tod weihte er mich ein, daß er das Manuskript im Jahre 1912 in einer Art geheimen Schublade in der Nähe von Rom in der Villa Mondragone gefunden hat, die ein Jesuitenseminar beherbergt. Dort ist es, ehe mein Freund es entdeckt hat, ungefähr zweihundertfünfzig Jahre lang aufbewahrt worden. Zuerst wußte er nicht richtig, was er damit anfangen sollte. Und die Jesuiten, die es ihm verkauft haben, anscheinend auch nicht.«
»Das Manuskript umfaßt einhundertzwei Seiten, auf Pergamentpapier. Der Text ist in einer Geheimsprache abgefaßt. Darin eingefügt sind ungefähr vierhundert rätselhafte Zeichnungen- astrologischer, botanischer und biologischer Natur. Und zwar in Farbe - blau, grün, rot, alle möglichen Töne. Es gibt Bilder von Sternen und Pflanzen und von ein paar interessanten, nackten Damen in Badezubern, danach sieht es zumindest aus. Eine Zeitlang stellte das Manuskript ein Kuriosum dar, bis 1921 ein Mann mit dem Namen Newbold behauptete, es entschlüsselt zu haben. Seiner Einschätzung nach war es das Werk Roger Ba-cons.«
»Der Alchemist und franziskanische Mönch aus dem 13. Jahrhundert«, sagte Indy.
»Wie Sie sicherlich wissen, hat Newbold ein paar ziemlich wilde Behauptungen aufgestellt. Er war der Ansicht, daß Bacon Mikroskope und Teleskope verwendete - viele hundert Jahre vor ihrer dokumentierten Erfindung - und einen Großteil der Geheimnisse der modernen Wissenschaft geknackt hatte. Newbold behauptete außerdem, daß die Botschaft in einer Art römischen Kurzschrift abgefaßt und im Text versteckt sei, aber niemand sonst schloß sich dieser Theorie an. Damit setzte er schließlich seine Karriere in den Sand, ehe er 1926 starb.«
»Das Manuskript scheint eine Menge Menschen zu Opfern gemacht zu haben«, stellte Indy fest.
»So ist es«, stimmte Cadman ihm zu. »Obwohl ich vermute, daß Newbold eher an gebrochenem Herzen als an einem Fluch gestorben ist. Der Fluch hat eine Menge Karrieren abrupt beendet - diejenigen, die sich zu lange damit beschäftigt haben, scheinen sich in der Hoffnung auf das, was sie zu sehen oder finden wünschten, verloren zu haben. Doch als Wilfrid Voynich starb, hat die Furcht vor drohendem Unheil seine Witwe offenbar auf die Idee gebracht, das Manuskript als Dauerleihgabe nach Yale zu geben - einfach nur, um das Ding nicht mehr im Haus haben zu müssen.«
Indy schlürfte seinen Tee.
»Was halten Sie von dem Manuskript?« wollte Indy wissen.
»Ich halte es für einen alchemistischen Text, meine aber, daß es wahrscheinlich nicht das Werk Roger Bacons ist. Einem erfahrenen Auge dürften die vielen Hinweise darauf auffallen, die der Zeit, aus der es stammen soll, widersprechen. Man kann nur raten, wo und wann es geschrieben wurde.«
»Ihr Lächeln verrät mir, daß Sie eine Theorie aufgestellt haben.«
»Aber wirklich nur eine Theorie«, meinte Cadman. »Es gibt Beweise, daß es sich um dasselbe Manuskript handeln dürfte, welches um das Jahr 1608 in Prag aufgetaucht ist. Rudolf von Habsburg hat es einem englischen Alchemi-sten-Duo abgekauft, John Dee und Edward Kelley. Haben Sie von ihnen gehört?«
Indy schüttelte den Kopf.
»Schade. Sie gehörten zu den eher schillernden Persönlichkeiten jener Zeit - man nannte sie damals abfällig Scharlatane -, was nichts daran änderte, daß Dee als einer der gebildetsten Männer in England angesehen wurde und als Hofastrologe am Hof der Königin Elisabeth fungierte. Kelley behauptete, in einem Sarg in Wales auf ein unentzifferbares Manuskript und auf eine Phiole roten Pulvers gestoßen zu sein, das er das Elixier des Lebens nannte. Hinterher versteifte sich Kelley auf das Vorhersagen der Zukunft, unter Zuhilfenahme von etwas, das der Vorhersagestein genannt wurde.«
»Vorhersagestein?«
»Ja. Dabei handelte es sich um einen Kristall aus der Neuen Welt, den Dee erstanden hatte. Kelley behauptete, mit dessen Hilfe mit Engeln kommunizieren und die Zukunft vorhersagen zu können. Sie bedienten sich einer Sprache namens Enochian, in der sich die Engel anschei-nend unterhielten, und die von den Rosenkreuzern noch gesprochen wird. Dees Sohn John erinnerte sich später, daß sein Vater und Kelley viel Zeit mit dem Stein verbracht haben. Sie versuchten, ein geheimnisvolles Buch zu entziffern, das in Hieroglyphen abgefaßt war.«
»Ich nehme mal an, daß dieser Stein schon seit langer Zeit verschollen ist«, meinte Indy.
»O nein«, entgegnete Cadman. »Man kann ihn sich im British Museum in London ansehen. Dee und Kelley sind als diejenigen zu betrachten, die die Saat gelegt haben. Ihretwegen ist Voynich auf Roger Bacon gekommen. Sie zollten Bacon großen Respekt, und bevor sie das Manuskript für sechshundert Golddukaten an Rudolf von Habsburg in Prag verkauften, kamen Gerüchte in Umlauf, daß er es geschrieben hatte und daß es das Geheimnis enthielt, wie man aus Blei Gold machen kann. Man sagte ihnen damals auch nach, daß sie dazu in der Lage wären, aber das war wahrscheinlich nur Verkaufstaktik.«
»Falls sie in der Lage gewesen wären, Gold zu machen«, sagte Indy, »hätten sie meiner Meinung nach keinen Grund gehabt, das Manuskript zu verkaufen - dann wären sie ja sowieso über alle Maßen reich gewesen, auch ohne darauf verzichten zu müssen.«
»Das, mein Freund, ist mir seit jeher das große Rätsel an der Alchemie«, sagte Cadman. »Ein Sechsjähriger kann diesen Schluß ziehen, aber ein machtbesessener König anscheinend nicht.«
»Egal, was man sonst noch über Dee und Kelley sagen mag«, gab Indy zu bedenken, »ihre kommerzielle Ader muß man bewundern. Heute würden sie mit dem Verkauf von Lebensversicherungspolicen ihr Glück machen. Was ist aus ihnen geworden?«
»Nachdem sie verhaftet und der Zauberei und Ketzerei beschuldigt wurden, wurde Kelley von Rudolf von Habsburg ins Gefängnis geworfen - aber man erlaubte ihm, die geheimnisvollen Bücher zu behalten, weil der König immer noch hoffte, daß er Gold machte. Kelley versuchte aus dem Gefängnis zu fliehen, fiel aber vom Dach und starb.«
»Dee erging es etwas besser. Er kehrte nach England zurück, widmete sich weiterhin der Zauberei und Alchemie, aber ohne seinen alten Freund brachte er leider nichts mehr zustande. In Verruf geraten, starb er schließlich.«