»Und was passierte mit dem Manuskript?«
»Rudolf starb 1612, und zu jener Zeit befand es sich offenbar im Besitz von Jacobus de Tepenecz, dem Leiter des Königlichen Alchemie-Labors. Irgendwann zwischen 1622 und 1656 erbte Joannus Marcus Marci, Rudolfs Hofphysiker, das Manuskript. Marci schickte es nach Rom an seinen alten Lehrer Athanius Kircher. Er war einer der großen Al-chemisten des 17. Jahrhunderts. Als Kircher im Jahre 1660 Jesuit wurde, trennte er sich von all seinen weltlichen Gütern, und das Manuskript landete auf einem Regal in besagtem Seminar in der Nähe von Rom, wo Voynich es entdeckte.«
»Damit hätten wir also die Zeitspanne von 1608 bis 1933 erklärt. Dürfen wir annehmen, daß es im 16. oder 17. Jahrhundert geschrieben wurde?«
Cadman lächelte.
»Oh, das Manuskript ist wahrscheinlich vier- oder fünfhundert Jahre alt, aber es liegt im Bereich des Möglichen, daß es die Abschrift eines wesentlich älteren Schriftstückes ist.«
»Und wie alt ist es nun?«
»Wenigstens aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert, aber vielleicht wurde es sogar vor der Geburt Christi verfaßt«, spekulierte er. »Alchemistische Überlieferungen scheint es seit Anbeginn der überlieferten Geschichte zu geben. Im Westen macht zum Beispiel die Fabel die Runde, daß Alexander der Große den Stein der Weisen in einer Höhle gefunden hat. Arabische Quellen behaupten, daß ihre Helden diesen Fund gemacht haben. Und die Chinesen - nun, auch sie können eine lange Tradition, was die Alchemie anbelangt, vorweisen. Möchten Sie vielleicht noch etwas Tee?«
Cadman ging zu der Herdplatte hinüber, kehrte mit dem Kessel zurück und goß heißes Wasser in die beiden Tassen. Unverhohlen gähnend warf Indy einen Blick auf seine Uhr. Es war Viertel vor drei.
»Wir können auch gern morgen fortfahren«, schlug Cad-man vor.
»Nein«, sagte Indy. »Bitte, falls es Ihnen nichts ausmacht -«
»Selbstverständlich macht es mir nichts aus. Die Nacht ist jung. Und offen gesagt, ich habe zur Zeit nicht gerade viele Gesprächspartner - wie es scheint, schrecke ich die meisten Menschen ab. Die meisten Leute sind solche Dummköpfe, finden Sie nicht? Man trifft nur selten gute Zuhörer.«
»Ich bin neugierig - was haben Sie dem FBI und den anderen erzählt?«
»Praktisch nichts«, sagte Cadman. »Sie haben Fragen gestellt, als erkundigten sie sich nach dem Preis eines Steaks. Die Idioten wußten nicht mal, daß sie die. falschen Fragen stellten - sie fragten nicht nach dem, was ich weiß. Und ich weiß eine ganze Menge über die Vergangenheit, weil ich mein ganzes Leben mit Büchern verbracht habe, die seit Generationen nicht mehr gelesen werden.«
Die Glasscheibe in der Eingangstür bewegte sich. Indy, der mit dem Rücken zur Tür saß, warf einen Blick über die Schulter und glaubte, einen Schatten vorbeihuschen zu sehen.
»Nur der Wind«, meinte Cadman.
»Ja, sicher«, sagte Indy. »Aber falls es Sie nicht stört -könnten wir aus dem Licht rücken? Ich fürchte, daß die Ereignisse der letzten Wochen mich ein bißchen nervös gemacht haben.«
Sie rückten die Stühle vom Tisch und der darüber hängenden Glühbirne weg, nahmen die Teetassen mit und machten es sich hinter einem Bücherregal bequem, das sie vor neugierigen Blicken schützte. Indy schätzte, daß die Reihe Bücher dick genug war, um eventuell Kugeln abzufangen.
»Fällt Ihnen ein Grund ein«, fragte er, »warum jemand das Manuskript stehlen sollte?«
»Ich wüßte nicht, warum es jemand stehlen sollte«, meinte Cadman. »Eine Reihe Kopien stehen jedem Interessierten zur Verfügung, und sein Wert als Sammlerstück beläuft sich höchstens auf ein paar tausend Dollars. Scheint mir kaum gerechtfertigt, daß einem deshalb das FBI im Nacken sitzt.«
»Könnte der Besitz des Originals etwas verraten, was eine Kopie nicht hat?« fragte Indy.
»Nun, möglicherweise ist etwas von Bedeutung im Pergament versteckt, oder es existiert ein Schlüssel, der auf den fotografischen Reproduktionen nicht sichtbar ist«, rätselte Cadman. »Eine wie auch immer geartete chemische Reaktion kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden - Sie wissen schon, ich meine diesen alten Trick mit der Tinte, die verschwindet und wieder auftaucht. Über diese Mechanismen verfügte man gewiß vor fünfhundert Jahren, und dann kommt als Dieb zwangsläufig ein Alchemist in die engere Wahl. Oder es handelt sich um einen optischen Trick - man hält das Papier gegen das Licht oder in eine bestimmte Lichtquelle. Vieles ist möglich, und vielleicht steckt auch nichts dahinter. Immerhin besteht ja noch die Möglichkeit, daß Voynich ein fünfhundert Jahre alter Betrüger ist.«
Indy nickte.
»Ich könnte mir denken«, fuhr Cadman fort, »daß -selbst wenn es jemandem gelingt, den Text zu entschlüsseln- die Information, die darin enthalten ist, wahrscheinlich für jedermann nutzlos sein dürfte, der sich mit alchemistischen Überlieferungen und Märchen nicht auskennt. Die Alchemisten liebten es, ihr Wissen in Rätsel zu verpacken, um es vor den Augen der Unreinen zu schützen. Ein allgemein bekanntes Beispiel dafür ist folgendes: >Was oben ist, ist unten.« Und dann ist da noch die Frage der prima materia, dem ursprünglichen Material, das bei der Herstellung des Steins verwendet wurde. Keiner ist bislang in der Lage gewesen, die Materie zu identifizieren, obwohl die Rätsel daraufhindeuteten, daß es sich um etwas handelte, das, wenn es erst mal erkannt war, eigentlich glasklar auf der Hand lag.«
»Dann glauben Sie also, daß die Chancen gut stehen, daß das Voynich-Manuskript das Geheimnis zur Herstellung des Steins der Weisen birgt?«
»Kein anerkannter Text, der sich mit Alchemie befaßt, dürfte darauf verzichten«, meinte Cadman. »Der sagenumwobene Stein der Weisen, dem die Fähigkeit innewohnt, aus Blei Gold zu machen und der Unsterblichkeit gewährt. Das ist ein ganz netter Traum, nicht wahr?«
»Ja«, stimmte Indy zu, »wenn er nur wahr wäre.«
»Um ehrlich zu sein«, sagte Cadman, »wir sollten der Al-chemie eigentlich mehr Respekt zollen, als die moderne Wissenschaft zuläßt. Trotz des ganzen Hokuspokus sind die in Rätseln abgefaßten Geheimnisse und überzogenen Behauptungen doch die Grundlage, auf der die heutige Wissenschaft basiert. All diese Petrischalen und Reagenzgläser in den modernen Laboratorien haben wir doch der Alchemie zu verdanken.« Er hob seine Tasse Tee.
»Da möchte ich doch einen Toast auf die Alchemie aussprechen«, sagte er.
»Ja, und einen auf die Hilfe von Fremden«, meinte Indy und hob ebenfalls seine Tasse.
»Sagen Sie mir«, fragte Cadman, »sind Sie wirklich nur hierher gekommen, um ein Zimmer zu mieten? Oder war das einfach eine willkommene Ausrede?«
»Ich kam wegen des Zimmers«, sagte Indy, »aber ich suchte ... ich weiß nicht. Vielleicht Anleitung.«
»Ach, welch bedeutungsschwangerer Zufall«, sagte Cadman. »Synchronizität, falls man Jung Glauben schenken darf. Zufälle gibt es nicht, mein Freund.«
»Kann sein«, meinte Indy. »Obwohl mir Vorsehung der passendere Begriff zu sein scheint. Wie auch immer, ich werde keine der beiden Thesen in Frage stellen - wo ich doch mitten in der Nacht auf einen Experten einer toten Kunstgattung gestoßen bin.«
»Nicht wirklich tot«, entgegnete Cadman. »Die Alchemie hat eine Art Renaissance erlebt, seit es Lord Rutherford gelungen ist, Nitrogen in Oxygen umzuwandeln, indem er auf Radioaktivität zurückgegriffen hat. Dieses Ergebnis hat die kartesische Wissenschaft für unmöglich gehalten. Ich bin unter anderem mit dieser Materie so vertraut, weil ich ein paar sehr gute Kunden habe, die alles, aber wirklich alles zu diesem Thema kaufen.«