»Wirklich?« staunte Indy.
»Da gibt es einen Mann in London, der wahrscheinlich die führende Autorität ist, wenn es um die tatsächliche Anwendung der Alchemie geht. Sein Name ist Alistair Dunstin, und er bekleidet irgendeine Position am British Museum. Ihm schicke ich regelmäßig Büchersendungen. Es gibt sogar das absurde Gerücht, daß es ihm gelungen sein soll, eine kleine Menge Blei in Gold zu verwandeln.«
»Wäre eventuell sinnvoll, sich mal mit ihm zu unterhalten«, sagte Indy nachdenklich.
»Dieser Ansicht waren auch die Italiener. Sie fragten mich über ihn aus - was für Bücher ich ihm schicke und so weiter und so fort. Aber ich habe ihnen natürlich nichts verraten.«
»Natürlich nicht«, sagte Indy.
Cadman gähnte, stand auf und streckte sich.
»Ich fürchte, wir haben uns die Nacht mit Geplauder um die Ohren geschlagen.«
Indy erhob sich auch und streckte die Hand aus. »Danke. Sie haben mir mehr geholfen, als Sie sich denken können. Ich hoffe, ich kann es Ihnen eines Tages vergelten und Ihnen einen Gefallen tun.«
»Da gibt es eine kleine Sache«, sagte Cadman. »Falls es Ihnen nichts ausmacht.«
»Und was wäre das?«
»Verraten Sie mir Ihren Namen.«
KAPITEL DREI. Herrscher der Lüfte
Auf dem schmalen Bett des gemieteten Zimmers lag Indy gedankenversunken und wartete auf den Anbruch der Dämmerung. Müde wie er war, konnte er dennoch keinen Schlaf finden - immer wieder mußte er an die bewaffneten Männer in grauen Uniformen denken, an Sarducci mit seiner vernarbten Glatze und dem funkelnden Eckzahn aus Gold. Wo ist die Verbindung, fragte er sich, zwischen den Männern im Flugboot und dem Voynich-Manuskript? Indy beschlich eine Vorahnung, daß er in eine Sache hineingezogen wurde, zu der ein kühlerer oder vernünftigerer Kopf Abstand gesucht hätte. Aber wie üblich siegte die Neugier über seinen Verstand, und auf einmal drängte es ihn, die verlorene Zeit wettzumachen. Als es kaum dämmerte, war er rasiert, angekleidet und bereit aufzubrechen.
Als er die Tür zum Flur öffnete, hörte er Schritte, die sich auf der Treppe nach unten bewegten, gerade so, als ob er jemanden überrascht habe. Er lief die Stufen hinunter und schaute in beide Richtungen, aber der Bürgersteig war wie ausgestorben.
Den Zimmerschlüssel schob er unter Cadmans Ladentür hindurch. Bei Tageslicht kehrte sein Orientierungsvermö-gen zurück, welches ihn vergangene Nacht so kläglich im Stich gelassen hatte. Wenn er einen Block nach Süden und dann nach Osten abbog, mußte er seiner Einschätzung nach auf Penn Station treffen, der gleich drei Straßenblocks einnahm. Er hatte vor, sein Gepäck zu holen, die Kleider zu wechseln und sich dann auf die Suche nach den Faschisten mit dem großen Flugzeug zu machen. Er sah keinen Sinn darin, sich mit dem FBI oder dem Militärischen Abschirmdienst in Verbindung zu setzen, bevor er nicht mehr über das wußte, womit er nun zu tun hatte ...
Die massiven dorischen Säulen von Penn Station erinnerten an einen riesigen römischen Tempel, den man im Herzen von Manhattan errichtet hatte. Die zum Haupteingang führende Treppe war aus dem gleichen cremefarbenen italienischen Stein, der beim Bau des Colosseums verwendet worden war. Indy eilte die Stufen hinunter, an den langen Arkaden entlang, in denen Geschäfte und Verkaufsstände untergebracht waren, zur großen Wartehalle, die einem römischen Bad nachempfunden war. Die Schienen verliefen unter der Erde, und Indy konnte das leise Rumpeln der Lokomotiven spüren, die den Bahnhof verließen. Er kämpfte sich durch die gehetzte Menschenmenge zu den Schließfächern vor, wo sein Koffer und sein Ledersack verstaut waren.
Nachdem er in der Herrentoilette seine getragene Kleidung gegen khakifarbene Arbeitsklamotten ausgetauscht hatte, kam draußen im Wartesaal ein Zeitungsjunge mit der Morgenausgabe des New York Journal an ihm vorbei. »Balbos Luftstreitflotte zieht triumphierend ab«, rief der Junge. »Auf dem Weg nach Europa.« Eine Ausgabe hielt er hoch über den Kopf. Auf einer vier Spalten breiten Fotografie war eine Staffel großer Flugzeuge zu sehen.
»Eine Zeitung, Mister?« fragte der Junge.
Indy bezahlte die Ausgabe.
»Wann ist all das passiert?« fragte er den Zeitungsjungen. »Wie lange haben sich die italienischen Flugzeuge in Amerika aufgehalten?«
»Gütiger Gott, Mister, waren Sie im letzten Monat in einer Höhle versteckt?«
»So könnte man es auch sagen«, meinte Indy. »Aber eigentlich war es ein unterirdischer Tempel und keine Höhle, und die meiste Zeit habe ich im Dschungel zugebracht, auf dem Hin- und Rückweg zu diesem Tempel.«
»Sie sind komisch«, sagte der Junge und rannte davon.
Indy stellte das Gepäck ab, zog seine Brille aus der Brusttasche seiner Lederjacke und las, reglos in der wogenden Menge stehend, den Artikel durch.
Kaum hatte er die Meldung gelesen, griff er nach seinem Gepäck und eilte zu einer Reihe Münzfernsprecher. Glücklicherweise war eine Kabine frei. Er warf ein Zehncentstück in den Schlitz und suchte seine Taschen nach der Visitenkarte ab, die Manly auf seinen Schreibtisch gelegt hatte.
»Ja, hallo, nur einen Augenblick, bitte.« Die Karte mit der Nummer steckte in seiner Brieftasche. »Danke, ich werde warten ... Major? Hier spricht Jones. Wie schnell können sie mich auf die andere Seite des Atlantiks bringen?«
Das Luftschiff U.S.S. Macon war ein silberner Torpedo, zweieinhalbmal so lang wie ein Fußballfeld. Seitlich konnte man die vertrauten Embleme der Luftflotte, ein Stern in einem Kreis, erkennen. Die >Schwanzflossen< waren in Rot, Weiß und Blau gehalten. Die amerikanische Flagge flatterte im Wind. Das Taxi, das unter den Luftschiffrumpf auf dem U.S. Naval Flugplatz in Lakehurst, New Jersey, rollte, schien daneben so klein wie ein Kinderspielzeug.
Die Macon war aus dem riesigen, kokonartigen Hangar gezogen worden und begann langsam gen Himmel aufzusteigen, für ihren Jungfernflug über den Atlantik. Die Marine erlaubte nicht, daß die Abflugzeit wegen eines zivilen Passagiers verschoben wurde, obwohl sie widerwillig zugestimmt hatte, ihn mit an Bord zu nehmen - »falls der Mann rechtzeitig eintreffen würde«.
Indy war aus dem Bahnhof gestürzt und hatte sich in einen großen Plymouth gesetzt, dem seiner Meinung nach schnellsten Fahrzeug in der Reihe der Taxis, die in der Kurve warteten. Dem Taxifahrer hatte er eine Handvoll Geldscheine in die Hand gedrückt - alle Banknoten, über die er noch verfügte - und hatte ihm befohlen, Gas zu geben. In weniger als einer Stunde und fünfzehn Minuten legte der Taxifahrer die Strecke nach Lakehurst zurück, was angesichts des morgendlichen Verkehrs eine Meisterleistung war. Noch bevor der Wagen mit quietschenden Reifen auf dem dunklen Asphalt stehenblieb, griff Indy nach seinem Gepäck und sprang zur Tür hinaus.
»Was, kein Tip?« rief ihm der Fahrer mürrisch hinterher.
»Immer blinken, bevor Sie abbiegen«, rief Indy ihm zu.
Ein Armeefahrzeug parkte unter dem Luftschiff, und ein fröhlich dreinblickender Lieutenant kam um den Wagen herumgelaufen, um Indy in Empfang zu nehmen. In Händen hielt er einen dicken braunen Umschlag.
»Dr. Jones«, sagte er. »Der Major hat mir aufgetragen, Ihnen das hier auszuhändigen.«
»Danke.« Indy stopfte den Umschlag in seine Jacke.
Gruppen von Matrosen, die Vertäuungsseile festhielten, führten einen eigenwillig anmutenden Walzer quer über das Rollfeld auf, als die Macon auf den Windböen schwebte. Dann wurden die acht in Deutschland hergestellten Maybach-Motoren eingeschaltet. Dunkle Rauchwolken quollen aus den Außenbordabgasrohren. Das Luftschiff war noch keine hundert Meter aufgestiegen, aber die Luftströmung von den großen Propellern riß Indy beinahe den Hut vom Kopf. Von nun an hielt er den Fedora fest.