»Professor«, sagte O'Toole. »Was hat dieser Mistkerl gerufen, ehe er ins Meer fiel?«
»Den Kriegsruf der Faschisten«, sagte Indy. »Spazio. Das ist das italienische Wort für Raum, für Territorium - für Durchsetzungskraft.«
»Nun, Raum hat er jetzt ja«, erwiderte O'Toole trocken. »Es ist ein weiter Weg nach unten.«
KAPITEL VIER. Soror Mystica
Bei Sonnenaufgang setzte eine Sparrowhead Indy auf einem Flugplatz außerhalb von London ab. Nach dem vereitelten Bombenattentat war die Atlantiküberquerung der Macon ereignislos verlaufen, und Indy hatte die übrige Flugzeit mit dem Lesen der Akten des Militärischen Geheimdienstes und Abstechern zur Funkstation verbracht, wo er sich nach dem Verbleiben von Balbos Geschwader erkundigte. Das Glück schien auf seiner Seite zu sein. Wegen des schlechten Wetters mußte Balbo gezwungenermaßen drei Tage lang in Ponta Delgada verweilen. Indy erreichte London, als Balbo und seine Leute noch mitten über dem Atlantik waren.
Den Funker der Macon hatte Indy gebeten, Manly eine verschlüsselte Nachricht zukommen zu lassen. Darin sollte er ihn über das gescheiterte Bombenattentat in Kenntnis setzen und ihn bitten, mit Marcus Brody im Museum Kontakt aufzunehmen. Brody sollte aus dem Museumsetat Geld für die Reise nach Rom und möglicherweise weitere anstehende Reisen an die Bank of England überweisen. Außerdem hatte er darum gebeten, das Budget als Finanzierung einer Expedition auf die Isle of Wight zu verbuchen, falls sich jemand nach seinen Aktivitäten in London erkundigen sollte.
»Sie haben Glück«, meinte der Sparrowhead-Pilot, als die Maschine aufgetankt wurde. »Ein paar Monate später wären wir nicht in der Lage gewesen, Sie hier abzusetzen. Die Marine plant, bei den Sparrowheads die Landemechanismen abzuschrauben und sie durch riesige Treibstofftanks zu ersetzen. Ich hatte ganz schöne Schwierigkeiten, Sie bis hierher zu transportieren.«
Die Grasrollbahn lag zwanzig Meilen östlich von London. Weit und breit war kein verfügbares Taxi in Sicht. Der Mann, der mit der Aufsicht über den kleinen Landeplatz betraut war - ein Veteran aus dem Ersten Weltkrieg, der auch als Mechaniker und Tankwart fungierte - schien sich für Indys Weitertransport nach London nur wenig zu interessieren. In der Nähe gab es eine Bahnstation, was Indy nicht viel nutzte, weil er keinen Penny in der Tasche hatte. Um wieder flüssig zu sein, mußte er erst mal der Bank of London einen Besuch abstatten.
Ihm blieb also nichts anderes übrig, als die Straße Richtung Osten hinunterzulaufen und von da aus zu trampen. An diesem Morgen war es ziemlich kalt. Mißmutig steckte er die Hände in die Taschen und stellte den Kragen zum Schutz gegen den eisigen Wind auf.
Nach ungefähr einer Meile hielt ein Milchwagen an. Der Fahrer gab ihm zum Frühstück eine Flasche Milch aus, und als er erfuhr, daß Indy Archäologe war, gab er sein Geschichtswissen zum besten. »Londinium«, sagte er, als sie sich der Stadt näherten. »So nannten es die Römer im ersten Jahrhundert. Früher war hier mal richtige Wildnis«, sagte der Fahrer und holte mit der einen Hand weit aus. »Das Ende der Erde - können Sie sich vorstellen, wie es für diese armen Legionäre gewesen sein muß? So weit weg von ihrer Heimat, ihren Familien, und dann mußten sie auch noch gegen eine Horde blaugesichtiger Teufel kämpfen!«
»Die Geschichte wiederholt sich«, sagte Indy. »Nur ein paar Jahrhunderte später sind es britische Soldaten, die gegen die Zulus in Afrika ins Feld ziehen.«
»Oder in Belfast«, grunzte der Fahrer. »Wissen Sie, ich muß jedes Mal lachen, wenn ich Mussolini in der Wochenschau sehe. Das ist so ein steifgliedriger Clown. Aber es drängt ihn danach, die glorreichen Tage des blühenden Roms wieder auferstehen zu lassen, und das ist leider überhaupt kein erfreulicher Gedanke.«
Die Tour des Fahrers endete in Chelsea, aber er hatte die Freundlichkeit, Indy ein paar Busmarken zu schenken und ihm Glück zu wünschen. Indy bat ihn um seine Adresse, damit er ihm Geld schicken konnte, aber der Mann lächelte nur freundlich und verabschiedete sich.
In der Tottenham Court Road in Bloomsbury sprang Indy aus dem Doppeldeckerbus und konnte schon die imposante griechische Fassade des British Museum erkennen, die wie ein Wächter über den Baumkronen aufragte, obwohl das Gebäude noch drei Straßenblocks entfernt war.
Mit großen Schritten marschierte er durch das verschlafene Wohnviertel und erklomm kurz darauf die breiten Museumsstufen.
Hinter dem Eingangsportal des weitläufigen Gebäudes lauerte ein Labyrinth aus Gebäudeflügeln und Korridoren, die im Lauf der Jahre angebaut worden waren. Vor dem stummen Portier im Eingangsbereich hielt Indy inne; die Aufzählung der zahllosen Abteilungen half ihm nicht wei-ter, denn er hatte keine Ahnung, wo sich Alistair Dunstins Büro befinden mochte.
»Entschuldigen Sie«, wandte er sich hilfesuchend an eine Frau mittleren Alters am Informationsschalter. »Könnten Sie mir verraten, wo ich Alistair Dunstin finden kann?«
»Dunstin«, wiederholte die Dame. Wie eine Eule schielte sie durch die untere Hälfte der geschliffenen Brillengläser und studierte eine Telefonliste. »Hier gibt es einen Dunstin, der im Lesesaal arbeitet. Soll ich ihn für Sie anläuten?«
»Nein, danke. Es wäre mir lieber, wenn ich einfach so bei ihm vorbeischauen dürfte.«
»Dann gehen Sie einfach geradeaus«, half ihm die Dame weiter. »Das ist der einzige Raum in diesem Gebäude, den man auf jeden Fall findet.«
Indy ging den Flur hinunter zu der höhlenartigen Bibliothek. In der Mitte des Lesesaals blieb er vor einem Schreibtisch stehen, der aussah, als hätte er schon hier gestanden, während Napoleon in der Schlacht von Waterloo geschlagen wurde.
»Ich suche Alistair Dunstin«, sagte er.
»Sie auch?« fragte die Bibliothekarin hinter dem Möbelstück.
»Wie bitte?«
Die junge Frau runzelte die Stirn.
»Auf dem Schild auf dem Schreibtisch steht A. DUNSTIN. Ich würde ihn gerne sprechen.«
»Ich bin Alecia Dunstin«, sagte die Frau und strich eine rote Haarlocke aus den Augen. Sie sprach mit deutlichem englischen Akzent, aber da lag auch etwas in ihrer Stimme, auf das Indy nicht den Finger legen konnte. Möglicherweise hatte sie einen Teil ihrer Kindheit oder Jugend in Indien oder Ostafrika verbracht. »Sie suchen meinen Bruder Ali-stair. Sein Büro liegt oben, in der Abteilung für Britisches Altertum und Mittelalter. Aber dort werden sie ihn kaum finden. Er ist vor drei Tagen verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Senken Sie Ihre Stimme«, sagte sie. »Das hier ist eine Bibliothek.«
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich. Er kam sich wie ein Schuljunge vor, wie er, den Hut in Händen haltend, vor ihrem Schreibtisch stand. Die große Kuppel des Lesesaals des British Museums spannte sich wie ein Himmelszelt über ihre Köpfe. Indy überkam das Gefühl, einem Engel einen Augenblick seiner Zeit abspenstig zu machen.
»Wohin ist er gegangen?« erkundigte er sich.
»Ich glaube wirklich nicht, daß Sie das etwas angeht«, erwiderte sie. »Ich bin sicher, in der Abteilung für Altertum und Mittelalter gibt es genug Personen, die Ihnen Auskunft geben können.«
»Nein, das können sie eben nicht.«
Alecia Dunstin entwich ein Seufzer. Bislang hatte sie es sorgsam vermieden, ihm in die Augen zu schauen, aber nun blieb ihr nichts anderes übrig, weil dieser ungehobelte Amerikaner in der abgetragenen Lederjacke sich weigerte, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
»Soll ich einen Wachmann rufen?« fragte sie.
Auf einmal wußte Indy nicht, was er sagen sollte. Er mußte den Blick abwenden, um ihr zu antworten.