»Sehen Sie nur«, sagte Indy und hielt den Ausweis hoch. »Eine Ausleihkarte der Öffentlichen Bibliothek der Universität Princeton, New Jersey. Und mein Name steht auch darauf.«
Trimbly betrachtete den Ausweis.
»Der ist abgelaufen«, merkte er trocken an.
»Ach, kommen Sie«, bettelte Indy. »Falls ich mir die Mühe gemacht hätte, einen Ausweis zu fälschen, meinen Sie dann, ich wäre ausgerechnet auf einen Bibliotheksausweis gekommen?«
Der Bankangestellte seufzte.
»Möchten Sie die Summe in Pfund oder in Dollars ausgezahlt bekommen?« gab er klein bei.
Zusammen mit den fünfhundert Dollars, die Brody telegrafisch überwiesen hatte, bekam er auch ein Telegramm ausgehändigt. INDY, HOFFE, DASS DAS AUSREICHT >STOP< MEHR KONNTE ICH SO KURZFRISTIG NICHT ANWEISEN >STOP< HALTE MICH AUF DEM LAUFENDEN >STOP< VIEL GLÜCK, BRODY.
»Ich hoffe, Sie trinken Tee, Dr. Jones.«
Alecia Dunstin drehte das Gas unter dem siedenden Wasserkessel ab und schenkte heißes Wasser in zwei Tassen. Die Dreizimmerwohnung in dem dreistöckigen Wohnhaus in der Southampton Row war einfach, aber sauber, und sie entsprach ganz und gar Indys Vorstellung.
»Warum haben Sie mich hierher gebeten?« fragte er neugierig. »Und was sollte das Gerede über ein Treffen ohne Anstandsdame? Haben Sie mich etwa für einen Mann gehalten, der Ihnen den Hof machen will?«
»Man weiß nie«, sagte sie und stellte ein Tablett auf dem Tisch ab. »Um ehrlich zu sein, ich kann mir immer noch keinen Reim auf Sie machen. Aber ich habe beschlossen, das Risiko einzugehen. Milch oder Zucker?«
»Keins von beidem, danke. Wie kam es, daß Sie Ihre Meinung geändert haben?«
»Lag wohl irgendwie an Ihrer Ausstrahlung, denke ich. Das war es und daß Sie sagten, man brauchte jemanden, mit dem man sich unterhalten kann. Seit Alistair verschwunden ist, mache ich mir große Sorgen. Und ich gehöre genau zu der Sorte Mensch, die sich im Notfall einem Gauner anvertraut.«
»Einem Gauner wie mir?«
»O ja«, stimmte sie zu. »Gauner sind in solchen Situationen am effektivsten. Sie halten mich doch hoffentlich nicht für jemanden, der sich einem Geistlichen anvertraut oder einen Leserbrief an eine Kummerkastentante bei der Zeitung schickt?«
»Auf gar keinen Fall.« Indy legte die Hände um die Teetasse und betrachtete Alecia durch den aufsteigenden Was-serdarnpf.
»Ich gehe gern auf Friedhöfe«, gestand sie ihm überraschenderweise. »Ich geh' des öfteren mitten in der Nacht nach Mortlake und statte Sir Richards Grab einen Besuch ab. Kennen Sie ihn? Er ist ein entfernter Verwandter von mir, müssen Sie wissen, und mein Lieblingsgauner. Ich wünsche mir so sehr, daß er für einen Augenblick zurückkommt - oder daß ich kurz zu ihm gehen kann.«
»Was meinen Sie mit zu ihm gehen?«
»Natürlich eine Zeitreise in seine Epoche. Was haben Sie denn gedacht?«
»Nichts, rein gar nichts«, sagte Indy. »Erzählen Sie mir von Ihrem Zwillingsbruder.«
»Alistair«, begann sie. »Wir sind immer zusammen ge-wesen. Im Alter von dreizehn Jahren haben wir unsere Eltern verloren. Mum und Dad kamen bei einem Autounfall ums Leben. Andere Verwandte gibt es nicht.»
»Wie alt sind Sie jetzt?«
»Siebenundzwanzig.«
»Wohnen Sie zusammen?« fragte Indy. In der Ecke standen Gehstöcke, und auf dem Buchregal lagen eine Reihe Pfeifen. Über dem Kamin waren Mitbringsel aller Art aufgereiht: ein kleiner Eiffelturm aus Metall, eine Spielzeugkanone aus Gettysburg, eine Schar Zinnsoldaten und ein kurioses Stück schwarzer Obsidian auf einem Holzständer. Außerdem hing dort eine Donnerbüchse aus dem 17. Jahrhundert, die im Lauf der Jahre nachgedunkelt war. »Das sind nicht gerade Dinge, die eine Frau aufbewahren würde.«
»Nein«, sagte Alecia. »Wir leben seit Jahren hier, seit Ali-stair die Anstellung im Museum bekommen hat. Er ist brillant, wissen Sie, aber auch ziemlich exzentrisch.«
»Das habe ich gehört. Hat er tatsächlich Gold aus Blei gemacht?«
Alecia trat ans Bücherregal und nahm eine Streichholzschachtel vom Pfeifenständer. Sie schob sie auf, bat Indy, die Hand zu öffnen und ließ einen kleinen Goldklumpen in seine Hand fallen.
»Eigenartig«, meinte Indy. »Sind Sie dabei gewesen, als er das vollbracht hat?«
»Ich habe ihm dabei geholfen.«
Ihr Gesicht lief rot an, ihr Blick umwölkte sich, ihre Augen wurden so dunkel wie das Metall der Donnerbüchse. Als sie sah, daß Indy ihre Melancholie auffiel, versuchte sie sich zusammenzureißen.
Indy wollte gerade fragen, wie sie ihm geholfen hatte, verlor aber plötzlich den Gedanken aus den Augen.
»Alistair hat diese alten Bücher und Manuskripte jahrelang studiert«, beeilte sie sich zu sagen. »Sein Zimmer ist vollgestopft mit diesen Dingen. Im Keller hat er sich ein Labor eingerichtet, und die Hausbesitzerin, die alte Mrs. Grundy, beklagt sich fortwährend - sie sagt, es riecht dort unten nach Schwefel.«
»Sulfur«, sagte Indy.
»Ja, es ist Schwefel, wenn ich es mir recht überlege.«
Indy gab ihr den Goldklumpen zurück.
»Alistair hält außerdem Tauben auf dem Dach.«
»Tauben?«
»Ja, Brieftauben. Er züchtet sie. Sie sind wirklich ganz niedlich. Jeder von ihnen hat er einen Namen gegeben. Er gehört einem Club an - das ist eine sehr populäre Freizeitbeschäftigung in England.«
»Tauben züchten«, sagte Indy. »Die Sorte, die früher zum Transportieren von Nachrichten verwendet wurde?«
»Ich denke schon.«
»Sagen Sie mir, was Alistair über das Voynich-Manuskript weiß«, forderte er sie auf. »Über den Hintergrund weiß ich Bescheid, wie das Manuskript gefunden wurde und so. Hat Alistair eine Theorie darüber entwickelt, worum es sich in dem Manuskript tatsächlich dreht?«
»Er meint, daß es viel älter ist, als bislang vermutet wird«, sagte Alecia. »Nicht das Papier, auf dem es geschrie -ben wurde oder der Einband, sondern das Geheimnis, das da festgehalten wurde.«
»Wie alt?« wollte Indy wissen.
»So alt wie die Zeit selbst«, antwortete Alecia kryptisch.
»Könnten Sie das näher erläutern?«
»Wir haben es hier mit uralten Themen zu tun, Dr. Jones. Welcher Periode soll man eine Idee zuordnen, die ihren Ur-sprung in der Urgeschichte hat? Wie Sie sicherlich wissen, gibt es unterschiedliche Traditionen, was die Begründung der Alchemie angeht, aber die meisten haben eines gemeinsam. Das ewige Geheimnis liegt in einer Höhle in der Wüste begraben.«
»Das Grab des Hermes«, warf Indy ein.
»Ja. Alexander der Große hat es entdeckt und die Welt erobert.«
»Aber wir sprechen hier über Mythen«, protestierte Indy. »Niemand nimmt die Geschichte Alexanders für bare Münze. Das war nur eine Erfindung, um seine Affinität zu den alten Göttern zu erklären, um eine Verbindung zwischen der alten und der hellenistischen Welt zu schaffen. Hermes ist in der griechischen Mythologie der Götterbote, ein Repräsentant des ägyptischen Thoth.«
»Und darüber hinaus der Gott der Diebe«, meinte Alecia und lächelte. »Hermes taucht im Lauf der Geschichte in den unterschiedlichsten Gestalten auf. In der alchemisti-schen Tradition war er ein Mann - Hermes Trismegistos, der »Dreimalgrößte« -, ein Zeitgenosse oder vielleicht sogar ein Vorläufer von Moses. Es ist noch gar nicht so lange her, daß seine Schriften als christliche angesehen wurden und als heilig wie die Bibel.«