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»Ich könnte an dieser Stelle Einwände erheben, aber das werde ich unterlassen. Fahren Sie fort.«

»Zusammen mit Hermes begraben liegt der Stein der Weisen, die einzig wahre Quelle der alchemistischen Macht. Dem Stein wird nachgesagt, daß er die Elemente verwandeln - zum Beispiel Blei in Gold - und das Leben unendlich währen lassen kann.«

»Bis hierher stimme ich Ihnen zu«, sagte Indy.

»In der Höhle, bei dem Stein, war auch die Smaragdgrüne

Tafel. Darauf standen die Grundsätze der Alchemie, die nachdrücklich die nahezu grenzenlose Macht des menschlichen Verstandes betonen, wenn der gepaart mit einem reinen Herzen auftritt. Die Tafel birgt auch die Instruktionen für die Herstellung des Steins der Weisen.«

»Warum sagen Sie, die Tafel war da?«

»Weil Alexander sie mitgenommen hat«, erwiderte Ale -cia. »Als Alexander starb, wurde die Smaragdgrüne Tafel mit ihm zusammen in seinem goldenen Sarkophag in Alexandria bestattet.«

»Tja«, sagte Indy, »wenn Alexander tatsächlich das Geheimnis der Unsterblichkeit gelüftet hat, wieso ist er dann gestorben, so wie alle anderen Sterblichen auch?«

»Es geht nicht um Unsterblichkeit«, wandte Alecia ein. »Sondern um Langlebigkeit. Theoretisch ist es möglich, ewig zu leben, jedenfalls solange man nicht vor einen Bus läuft oder eine Kugel abkriegt. Alexander wurde vergiftet.«

Indy nickte.

»Alexandria war die größte Stadt der damaligen Welt, das erste echte Zentrum der Wissenschaft und der Lehre. Dort wußte man, daß die Erde rund war und zwar gut tausend Jahre, bevor Columbus das rausgekriegt hat. Diese Stadt war außerdem das Zentrum alchemistischer Studien, und dort stand die erste große Bibliothek der Welt, aber all das Wissen ging verloren, als die Stadt im 4. Jahrhundert zerstört wurde. Und damit ging auch das Wissen über den Standort von Alexanders Grab verloren.«

Indy trank den Tee aus und stellte die Tasse auf dem Tablett ab.

»Das ist eine interessante Geschichte gewesen«, sagte er, »aber was hat das mit dem Voynich-Manuskript zu tun?«

»Darauf komme ich noch. Ihr Amerikaner seid so ver-dämmt ungeduldig. Jetzt machen wir einen Zeitsprung, ein paar Jahrhunderte nach vorn, ins Jahr 1357. Ein Franzose namens Nicholas Flamel entdeckt, was er das Buch Abrahams nennt. Er geht einem Traum nach, in dem ihm ein Engel ein Buch mit einem nicht zu entziffernden Text zeigt.«

»Nicht zu entziffernder Text?«

»Ja, in einer Geheimschrift. Beschreibungen dieses Buches tauchen schon im l. Jahrhundert in Alexandria auf. Es bestand aus einundzwanzig Seiten, auf denen auch mystische Zeichnungen zu finden waren. Auf der letzten Seite war eine Quelle in einer Wüste, aus der Schlangen kriechen.«

»Schlangen?« fragte Indy.

»Ja, Schlangen. In den Anweisungen im Buch wurde erklärt, wie man den Stein der Weisen herstellt, aber ein ganz wichtiger Bestandteil konnte nicht identifiziert werden: prima materia, die erste Materie, die den eigentlichen Prozeß in Gang setzt.«

»Schlangen«, wiederholte Indy.

»1382 soll Flamel mit der Hilfe seiner Frau diese Umwandlung gelungen sein«, fuhr Alecia fort. »Die Ähnlichkeiten zwischen dem Buch Abraham und dem Voynich-Manuskript liegen auf der Hand. Und dann gibt es da natürlich noch das Buch, das Edward Kelley in Wales entdeckt hat, ebenfalls nach einem Engelstraum. Er nannte das Buch The Gospel of St. Dunstable. Wieder ein geheimnisvolles Buch mit einem nicht zu entziffernden Text. Wahrscheinlich war das das gleiche Buch, das an Rudolf von Habsburg verkauft wurde.«

»Und all diese Bücher sind trotz der unterschiedlichen Titel ein und dasselbe?«

Alecia nickte.

»Alchemie ist zur Hälfte Wissenschaft, zur Hälfte Spiritualismus«, meinte sie. »Das Buch ist so etwas wie eine Art Rorschach-Test für die Seele - wenn Sie lange genug darin herumstöbern, spiegelt es das wider, an was Sie glauben; ob es sich dabei nun um Abraham oder St. Dunstable handelt, ist nicht von Bedeutung.«

»Oder um Roger Bacon«, sinnierte Indy.

»Richtig«, stimmte Alecia ihm zu. »Falls Sie der Empirie huldigen, werden Sie Teleskope und Mikroskope sehen, die ihrer Zeit weit voraus sind. Armer Newbold.«

Indy schüttelte den Kopf.

»Warten Sie mal«, sagte er. »Diese Theorie kann man doch auf alles anwenden, oder nicht? Wenn Sie etwas lange genug anschauen, dann sehen Sie immer eher das, was in Ihnen steckt als das, wofür der Gegenstand in Wirklichkeit steht. Nehmen wir als Beispiel die Literaturkritik- ich hege den starken Verdacht, daß sie uns mehr über die Kritiker verrät als über das Werk, mit dem sie sich beschäftigen.«

»Und was ist mit Flamel?« fragte Alecia.

»Was soll schon mit ihm sein?« erwiderte Indy. »Ich möchte Sie ja nicht beleidigen, aber jeder Alchemist, der etwas auf sich hält, hat- falls das, was ich gehört habe, zutrifft - schon mal etwas Gold gemacht. Das hat zweifellos etwas mit Geschicklichkeit oder einem chemischen Trick zu tun, der das Vergolden von Gegenständen ermöglicht.«

»Flamel hat nicht etwas Gold hergestellt«, gab Alecia zu bedenken. »Er hat eine Menge Gold gemacht. Er und seine Frau Perenelle stifteten vierzehn Hospitäler, drei Kapellen und sieben Kirchen. Kein schlechtes Ergebnis für einen

Scharlatan. Und es wird behauptet, daß sie niemals starben. Im Jahre 1761 - damals wären sie etwas mehr als vierhundert Jahre alt gewesen - besuchten sie in Paris die Oper.«

»Na gut«, sagte Indy. »Mal abgesehen davon, ob es möglich ist, Blei in Gold zu verwandeln oder ewig zu leben, Sie haben mich überzeugt, daß Voynich vielleicht dasselbe Buch besaß, das jahrhundertelang in Europa herumgegeistert ist. Aber warum sollte sich nun jemand die Mühe machen, ein Buch mit uralten Formeln zu stehlen?«

»Das ist einfach zu beantworten«, sagte Alecia. »Bei dem Geheimnis handelt es sich nicht um ein obskures alchemi-stisches Rezept, sondern um den Standort des Grabes von Hermes. Und vielleicht um die Macht, die Welt zu erobern.«

Indy kratzte sich am Kinn.

»Und was will Alistair erobern?« fragte er.

»Die Newtonsche Physik«, meinte Alecia. »Das ist alles.«

»Im Museum behaupteten Sie zu wissen, daß Alistair das Voynich-Manuskript nicht gestohlen habe«, sagte Indy. »Sind Sie dieser Meinung, weil Sie sich so gut kennen?«

Alecia nickte.

»Natürlich glaubt mir niemand«, sagte sie. »Er hat vor drei Tagen seinen Arbeitsplatz verlassen und ist nie wieder im Museum aufgetaucht. Als er vermißt wurde und dann das Voynich-Manuskript als gestohlen gemeldet wurde, nahm einfach jeder an, daß er sich damit auf und davon gemacht hat. Wer sonst sollte sich dafür interessieren? Aber die wissen nicht, was ich weiß.«

»Sie meinen, weil Sie ihn so gut kennen.«

»Das und noch etwas anderes«, sagte Alecia. Dann zögerte sie auf einmal. »Alistair hat mir das Versprechen abge-nommen, niemandem etwas davon zu erzählen. Aber ich werde es Ihnen zeigen, damit Sie mir glauben.«

Sie ging zu der Donnerbüchse über dem Kamin. Mit spitzen Fingern zog sie eine Rolle Papier aus dem Lauf, die sie Indy reichte. »Warum«, fragte sie ihn, »sollte er das doofe Ding stehlen wollen, wenn er eine exakte Kopie besitzt?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Indy und überflog das Dokument. »Das hier ist eine fotografische Kopie. Vielleicht fehlt ihr etwas Lebenswichtiges, wie beispielsweise die Kolorierung des Originals.«

»Sie sind unmöglich«, fand sie.

Mit dem Rücken zu Indy stellte sie sich ans Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust. In diesem Augenblick fiel ihm ein, daß er vorhin vergessen hatte, sie zu fragen, warum Flamel zusammen mit seiner Frau Gold gemacht hatte.