»Alecia -«
»Dr. Jones«, sagte sie. »Erwarten Sie Besucher?«
Die Wohnungstür wurde aufgebrochen, von einem gestiefelten Fuß aus den Angeln gerissen. Luigi Volatore - der letzte der Brüder - stürzte mit einer Mauser in der Hand in den Raum. Zwei atlantici begleiteten ihn.
»Durchsucht das Apartment«, rief er auf italienisch. »Findet sie.«
Die beiden Männer kämmten ein Zimmer nach dem anderen durch, schauten in Schränke und unter Betten und warfen frustriert Möbelstücke um. All das änderte nichts daran, daß die Wohnung leer war.
Luigi fluchte wild.
Er griff eine der Tassen auf dem Tischchen neben dem Sofa und trank einen Schluck. Der Tee war immer noch lau-warm. Dann ging er zum Fenster hinüber, öffnete es und schaute auf die Southampton Row. Die Straße war wie ausgestorben. Mit einem lauten Knall schloß er das Fenster wieder.
»Die können nicht weit sein«, sagte er. »Nehmt die Wohnung auseinander. Und schnappt euch alles, wofür Sarducci sich interessieren könnte.«
Die beiden machten sich sofort an die Arbeit, leerten Schubladen aus, stöberten Schriftstücke und Papiere durch. Alles, was irgendwie offiziell aussah, verstauten sie in einem Koffer aus dem Schlafzimmer.
»Wir sollten ihnen eine Überraschung bereiten, finde ich.« Luigi baute sich vor dem Schreibtisch an der Wand auf und kramte aus einer Tasse mit Bleistiften und Gummibändern eine Heftklammer raus.
Während die anderen ihrer Aufgabe nachgingen, inspizierte er die Gasleitung, die vom Herd zu einem Heizgerät im Kamin führte. Zufrieden nickend begab er sich zum Wandschalter neben der Eingangstür und knipste sie an. Erfreut stellte er fest, daß Strom zu der Lichtquelle an der Decke floß. Dann schaltete er das Licht wieder aus. Die Heftklammer schob er zwischen die Zähne, stellte sich auf einen Stuhl, trennte mit einem Metzgermesser die Fassung ab und warf sie in eine Zimmerecke, wo sie in Scherben zerbrach.
Während er arbeitete, summte er eine Arie.
Er nahm die Heftklammer aus dem Mund und zog sie auseinander, ehe er die beiden Enden um die Leitungen über der Isolierung wickelte. Dann sorgte er dafür, daß die bloßen Kupferenden der Heftklammer dicht beieinander hingen, ohne sich zu berühren.
Zufrieden mit seinem Werk stieg er vom Stuhl.
»Beeilt euch«, forderte er die beiden anderen auf.
Er ging in die Küche und schaltete alle Herdflammen an. Zischend strömte leicht entflammbares Gas in die Wohnung. Er zog eine Zigarre aus der Brusttasche und steckte sie in den Mund, lachte schallend und zog die Tür hinter sich zu, was wegen der herausgehobenen Angel nicht so einfach war.
Auf dem schmalen Sims vor dem Fenster in der dritten Etage klammerte Indy sich an der unebenen Fassade fest. Seine Finger schmerzten schon.
Alecia hatte ihre Arme um seine Taille geschlungen.
»Sind sie weg?« fragte sie.
»Ich glaube schon«, sagte Indy. »Ich hörte, wie die Tür zugeschlagen wurde. Wir müssen eine Möglichkeit finden, wieder in die Wohnung zu gelangen, bevor sie unten auf dem Gehweg auftauchen und uns hier oben entdecken. Kann man das Fenster von innen verriegeln?«
»Ja«, sagte Alecia.
»Wir haben keine Zeit, es aufzubrechen«, meinte er. »Ist das Fenster auf der anderen Seite von Ihnen offen?«
»Ja, einen Spaltbreit.«
»Dann arbeiten Sie sich langsam und vorsichtig dorthin vor.«
»Ich habe Angst, mich von der Stelle zu rühren«, gestand sie ihm.
»Aber die Waffen sollten Ihnen eigentlich noch mehr angst machen«, fand Indy.
Alecia kroch über den Sims, machte einen winzigen Schritt nach dem anderen, bis sie dicht genug am Fenster war, um reingreifen zu können. Das Fenster stand nur ein paar Zentimeter weit offen. Sie streckte die Hand aus, um es hochzuschieben. In dieser Sekunde gab der Sims unter ihr nach, und sie fiel. Glücklicherweise konnte sie sich am Fensterbrett festhalten.
Indy nahm ihre Hand und zog sie nach oben. Als sie mit beiden Beinen quasi wieder festen Boden unter den Füßen hatte, öffnete er das Fenster, damit sie hineinsteigen konnte. Als er ihr in das angrenzende Apartment folgte, fiel sein Blick auf Luigis Kopf unten auf dem Bürgersteig.
»Tut mir leid«, entschuldigte Alecia sich bei dem Ehepaar in der Wohnung, das gerade Toast verspeiste und einer BBC-Übertragung lauschte. »Wir haben die Tauben gefüttert und uns ausgeschlossen.«
»Keine Ursache«, sagte der Mann. »Ist mir auch schon passiert.«
»Ist doch nicht wahr!« wies ihn die Frau zurecht. »Warum lügst du andauernd? Hören Sie nicht auf das, was der alte Narr sagt«, bat sie und machte eine abfällige Kopfbewegung. »Möchten Sie vielleicht ein Toast mit Marmelade?«
»Sieht köstlich aus«, antwortete Alecia höflich, »aber nein, vielen Dank. Bleiben Sie nur sitzen, wir finden allein den Weg nach draußen.«
Sie liefen den Flur hinunter, und Alecia kramte nach ihren Schlüsseln.
»Die brauchen Sie nicht«, sagte Indy mit einem Blick auf den zerborstenen Türrahmen. Er schob die Tür auf. Zusammen betraten sie das dunkle Apartment. Alecia streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus.
Geistesgegenwärtig packte Indy ihr Handgelenk.
»Tun Sie das nicht«, wies er sie an und deutete mit dem Kinn auf die bloßliegende Stromleitung, die von der Decke baumelte. »Hier strömt Gas aus.«
Indy atmete tief durch und ging in das Zimmer. Er schritt über den Haufen Papier, der auf dem Boden ausgebreitet lag, und begab sich zum Kamin, wo er vor dem Heizgerät niederkniete und die gekappte Leitung genauer untersuchte. Er schaltete die Gaszufuhr ab. Das Zischen verstummte. Danach trat er in die Küche und drehte alle Herdflammen aus. Als er zur Eingangstür zurückkehrte, war ihm schwindelig, und seine Lungen brannten. Er mußte dringend Luft schnappen.
»Sie haben die Wohnung auf den Kopf gestellt«, sagte er und riß den Mund auf.
Alecia nickte und preßte die Lippen zusammen. Sie schwitzte, neigte den Kopf nach vorn, packte einen Schwall roter Haare und hob sie hinten hoch. Ihr wunderschöner graziler Nacken und die zarten, beinah elfenhaften Ohren brachten Indy kurz auf andere Gedanken. In diesem Moment fiel sein Blick auf ihren Halsansatz, wo ein kleines, aber ausgefeiltes Muster aus ineinander verschlungenen roten und schwarzen Kreisen zu erkennen war. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Die Tätowierung begann direkt unter dem Haaransatz und schlängelte sich weiter nach unten, um unter dem Stoff ihrer Bluse zu verschwinden. Das Muster war keltisch, wie Indy wußte. Als sie sah, daß er sie anstarrte, ließ sie das Haar wieder fallen.
»Was nun?« fragte sie ihn.
»Sie werden mit einer Explosion rechnen. Das heißt, sie warten irgendwo in einer Straße ganz in der Nähe«, äußerte er seine Vermutung. '
»Dann werden sie zurückkehren«, stellte Alecia fest.
Indy nickte.
»Ich dachte, ich hätte noch ein paar Tage, weil das Fluggeschwader noch mitten über dem Atlantik ist. Bestimmt haben sie per Funk eine Nachricht durchgegeben.«
Sie holte tief Luft und ging in ihre Wohnung, schnappte
ihre Handtasche, die achtlos auf dem Boden lag, und trat dann an den Kamin. Den Rücken Indy zugewandt, nahm sie den Obsidian vom Kaminsims und legte ihn in die Tasche, ehe sie die Voynichkopie aus der Donnerbüchse fischte. Zu Indys Überraschung gab sie ihm das kopierte Manuskript.
Er verstaute es in seinem Sack.
»Wohin gehen wir jetzt?« wollte sie wissen.
»Wir?« fragte er. »Ich mache mich auf den Weg nach Rom. Und Sie sollten an einem sicheren Ort Unterschlupf suchen. Vielleicht bei Verwandten auf dem Land.«