Alecia kaute nervös auf ihrer Unterlippe.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Und ich kann es Ihnen nicht übelnehmen, daß Sie mir nicht vertrauen. Sie haben ganz recht, ich habe Ihnen nicht alles erzählt. Aber nicht aus dem Grund, weil ich Sie hintergehen wollte. Ich ... nun, ich hatte Angst, daß Sie mich dann weniger achten würden. Ich habe ein paar Dinge in meinem Leben gemacht, auf die ich nicht sonderlich stolz bin. Alistair und ich sind nicht wie normale Menschen, müssen Sie wissen. Seit unserer Kindheit lastet ein schwerer Fluch auf unseren Schultern.«
Indy spießte ein Kartoffelstück auf und schob es in den Mund. Es schmeckte köstlich. Dann kostete er von dem Fleisch. Hervorragend. Wärme breitete sich in seinem Magen aus, und er spürte ganz deutlich, wie er langsam wieder zu Kräften kam.
»Ist nicht einfach, das zu erklären«, fand Alecia.
»Ich bin ein guter Zuhörer«, behauptete Indy.
»Die Tätowierung«, begann sie. »Die habe ich, seit ich sieben war. Sie beginnt hinten im Nacken, breitet sich über die Schulterblätter und das Rückgrat aus und endet oberhalb des Gesäßes.«
»Und weiter?« drängte Indy.
»Das ist das Zeichen der Thari, der alten Druidenkaste der Metallarbeiter. Es stammt aus einer Zeit, als das Wissen über die Metallverarbeitung, das Schmieden von Schwertern, mehr Respekt einflößte als andere Wissenschaften. Shelta Thari ist die Geheimsprache der Barden, Priester und Zauberer. Es ist eine sehr alte Sprache - möglicherweise prähistorisch. Vielleicht geht sie sogar bis ins Bronzealter zurück. Alistair und ich sind die Überlebenden einer aussterbenden Rasse.«
»Und der Mann, der mir die Fresse polieren wollte«, meinte Indy. »Ist er Schmied?«
»Ja. Die Sprache hat überlebt. Vor allem Schmiede und Bettler und Zigeuner kennen noch ein paar wichtige Sätze. Nus a dhabjan dhuilsa zum Beispiel. »Der Segen Gottes über dich.« Einige Gelehrte haben den Versuch unternommen, die Sprache zu transkribieren, aber das ist keinem gelungen. Die Thari haben die Angewohnheit, die Existenz dieser Sprache entweder zu verleugnen oder dem Fragenden irgendeinen Unsinn vorzutragen.«
»Das darf ich nicht vergessen.«
»Als unsere Eltern starben, haben die Thari für Alistair und mich gesorgt. Und sie haben uns weisgemacht, daß wir von königlichem Blut sind, daß ich die letzte, nun ... Priesterin bin.«
»Und Alistair?« fragte Indy. »Ist er auch ein Priester? Hat auch er eine Tätowierung im Nacken?«
»Nein. Thari ist eine ... matriarchalische Gesellschaft. Meine Mutter war -« Unvermittelt brach sie ab und blickte über Indys Schulter.
»Stimmt was nicht?«
»Drehen Sie sich nicht um«, flüsterte sie. »Da sind wieder diese Männer. Drei Männer. Der mit der Zigarre scheint der Boss zu sein.«
»Und was tun sie?«
»Sie stehen einfach nur im Türrahmen. Ihre Augen haben sich noch nicht an die Dunkelheit hier drinnen gewöhnt. Nun werfen sie einen Blick in den Pub. Wir müssen verschwinden.«
»Die Hintertür«, schlug Indy vor.
Er stand auf und zog eine Geldscheinrolle aus der Tasche, zupfte ein paar Pfundnoten heraus, wußte aber nicht, wieviel er zurücklassen sollte. Alecia nahm ihm die Entscheidung ab und legte eine Fünfpfundnote auf den Tisch.
»Sehr großzügig, ich weiß. Aber damit bezahlen wir den Schaden.«
»Was für einen Schaden?« staunte Indy.
Alecia begab sich an die Theke und unterhielt sich in Shelta mit dem Schmied. Er nickte. Dann nahm sie Indy an der Hand und zog ihn ins Hinterzimmer.
Einer der atlantici entdeckte sie.
»Halt!« rief er und rannte ihnen hinterher.
Als er an der Theke vorbeikam, drehte der Schmied sich um und schlug dem Mann die Faust ins Gesicht. Er fiel rücklings auf einen Tisch und schüttete das Bier über die Gäste, die dort Platz genommen hatten. Einer der Gäste hob ihn auf und schlug mit der Hand zu, so daß er gegen die Theke polterte.
Indy hörte, wie Gläser umfielen und zerbrachen, hörte das wohlvertraute Geräusch von Fäusten, die auf Fleisch trafen, während er und Alecia durch die Küche liefen. Die Hintertür war abgeschlossen. Indy nahm Anlauf und warf sich mit der Schulter gegen die Holztür, die keinen Millimeter nachgab.
»Amerikaner«, höhnte Alecia. »Los, lassen Sie mich mal ran.«
»Bitte sehr«, sagte Indy und massierte seine Schulter.
Die junge Frau fuhr mit der Hand über den Türrahmen und fand den Schlüssel, der dort versteckt war. Sie schob ihn ins Schloß, drehte ihn mit Leichtigkeit um und stieß die Tür auf.
»Jesus«, entführ es Indy.
Sie traten in die schmale Gasse.
Das helle Sonnenlicht ließ ihn blinzeln.
Sie folgten der Gasse auf die Straße, hatten aber erst ein paar Schritte zurückgelegt, als die drei Männer in den dunklen Uniformen an der Straßenecke auftauchten. Hinter ihnen endete die Sackgasse vor einer rußgeschwärzten Backsteinmauer.
Äußerst zielgerichtet und betont langsam kamen die drei Italiener auf sie zu. Luigi zog an seiner Zigarre. Die beiden anderen fischten Waffen aus ihren Mänteln.
»Das ging aber schnell«, meinte Indy.
»Und was nun?« fragte Alecia ihn.
Indy zerrte sie zu dem Holzzaun, der die Privatgrundstücke von der Gasse trennte, stapelte ein paar Mülltonnen auf und balancierte - vorsichtig wie eine Katze, die die Zähne fletscht und schreit, ehe sie sich davonmacht - auf der wackeligen Konstruktion. Alecia schlang den Riemen ihrer Handtasche über den Kopf, damit sie sie nicht verlor. Indy zog sie zu sich hoch, bat dann um Entschuldigung, als er ihr die Hand auf das Gesäß legte und sie zuerst über den Zaun hievte.
»Ihr da!« rief eine englische Stimme. »Halt!«
Indy und Alecia blieben einen Augenblick lang stehen. Ein Polizist hatte sich am Anfang der Gasse aufgebaut und blies energisch in seine Trillerpfeife.
»Gut«, meinte Indy.
Alecia schüttelte den Kopf.
»Er hat keine Waffe. Bobbies sind nur mit Schlagstöcken ausgestattet«, klärte sie ihn auf.
Die drei dunkelgekle ideten Männer drehten sich langsam um. Die Mündungen ihrer Waffen zeigten nach oben. Angewidert betrachteten sie ihren Widersacher. Dem Bob-by fiel die Trillerpfeife aus dem Mund, um dann lose an der Silberkette zu baumeln.
Zuerst zögerte er noch. Und dann ergriff er die Flucht.
Indy und Alecia landeten auf der anderen Seite des Zauns in aufgeweichter Erde. Das Grundstück gehörte einem Schrotthändler. Überall lagen Metallplatten, Motorenteile und anderer Schrottabfall herum. Neben dem Zaun war eine Pyramide aus leeren Öldosen und Benzinkanistern aufgetürmt.
»Falls wir das hier überstehen sollten«, sagte Indy, »werden wir getrennte Wege gehen. Einverstanden?«
»Einverstanden. Aber was machen wir nun?«
Das blecherne Klappern der Mülltonnen verriet ihnen, daß die dunklen Männer im Begriff waren, ebenfalls über den Zaun zu steigen.
»Dorthin«, sagte Indy und zeigte auf den rostenden Korpus eines Baggers mitten auf dem Schrottplatz. Die Schaufel war auf den Zaun ausgerichtet. Alecia ging in Deckung, während Indy seinen Revolver aus dem Sack holte, vom Zaun zurückwich und auf den ersten Kopf feuerte, der sich über den verwitterten Holzplanken abzeichnete. Die Kugel prallte von der Backsteinwand des Pubs ab. Vom Knall auf-geschreckt, stimmten alle Hunde in der Nachbarschaft in aufgeregtes Gebell ein.
Grinsend spazierte Indy zum Bagger.
»Indy!« kreischte Alecia. »Sind Sie verrückt? Sie können doch nicht mitten in London eine Schießerei anzetteln!«