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»Erwarten Sie Besuch?« fragte sie den Kapitän.

»Nein.«

»Kann ich mich irgendwo verstecken?«

»Keine Angst«, sagte der Mann. »Ich werde nicht zulassen, daß Ihnen etwas zustößt.«

»Sie kennen leider nicht die Sorte Mensch, mit der ich in letzter Zeit zu tun gehabt habe«, sagte sie. »Die werden Sie töten.«

Wieder räusperte sich der Kapitän. Ohne den linken Arm vom Steuerrad zu nehmen, griff er in ein Kästchen an der Wand und zog einen Revolver hervor. Die Waffe steckte er dann in seine Tasche.

Das Motorboot fuhr neben den Müllkahn und drosselte die Geschwindigkeit.

»Snopes«, rief er. »Laß deine Arbeit liegen und komm hier rauf. Du mußt das Steuer übernehmen.«

Der Kapitän vertraute den Kahn seinem ersten- und einzigen - Maat an. Alecia schenkte er ein vertrauensvolles Lächeln. »Sie bleiben besser hier, Miss«, riet er ihr.

Ein Mann sprang vom Deck des Motorboots auf die Mary Reilly. Dabei hätte er fast seinen Hut verloren. Er erwischte ihn gerade noch, bevor er ins dreckige Flußwasser fiel.

»Sie kehren besser dorthin zurück, von wo Sie gekommen sind, mein Sohn.« Der Kapitän richtete die Revolvermündung auf den Brustkorb des Fremden. »Sie will Sie nicht sehen!«

»Jones!« rief Alecia aus dem Steuerhaus.

Indy strahlte und breitete die Arme aus.

»Ist schon in Ordnung, Kapitän«, sagte Alecia und kam nach unten.

»Wollen Sie ihn hier haben?«

»Er gehört nicht zu den Männern, vor denen ich mich fürchte«, verriet sie ihm. »Bitte, lassen Sie ihn an Bord des Schiffes bleiben.«

Indy grinste und winkte zum Motorboot hinüber, das wendete und auf dem Rückweg nach London das Flußwasser am Kiel aufschäumte.

»Da sieh einer an«, meinte der Kapitän. »Sehe ich vielleicht so aus, als ob ich ein Passagierschiff für Arme betreibe? Es hat mir nichts ausgemacht, die junge Dame mitzunehmen, aber -«

»Ich kann Sie bezahlen«, erwähnte Indy.

Der Kapitän räusperte sich.

»Tja, das ändert natürlich die Situation.«

»Jones«, sagte Alecia. Sie schlang den Arm um seine Taille und drückte ihn an sich. »Sie haben Ihre Meinung geän-dert. Ich nahm nicht an, daß ich Sie noch mal Wiedersehen würde. Wie haben Sie mich gefunden?«

Indys Grinsen bekam etwas Verschlagenes.

»Ich brauche Sie«, gestand er.

»O nein!« rief Alecia. Sie ließ ihn los und wich zurück. »Sie gemeiner Kerl! Sie sind mir gefolgt, nicht wahr?«

»Ich konnte Sie wohl kaum allein ziehen lassen«, fand Indy. »Ich mußte sichergehen, daß Sie nicht verfolgt werden. Und außerdem bin ich auf Ihre Hilfe angewiesen, wenn ich Alistair finden soll.«

»Dazu brauchen Sie mich?« fragte sie. »Das ist alles? Sie haben mich auf dem Gehweg stehenlassen wie ein Stück Kaugummi, das Sie von Ihrer Schuhsohle abgekratzt haben, und jetzt tauchen Sie hier einfach auf, weil Sie meine Hilfe brauchen?«

»Aber Sie sagten doch, ich solle vergessen -«

»Und Sie haben mir geglaubt?«

»Nun -«

Der Kapitän trat zwischen die beiden.

»Möchten Sie, daß ich ihn ins Wasser schmeiße, Miss?« fragte der Mann. »Er sieht gesund aus. Er könnte es bis ans Ufer schaffen.«

»Ja«, stimmte sie seinem Vorschlag zu. »Werfen Sie ihn über Bord wie stinkenden Müll.«

»Alecia«, flehte Indy. Sehnsüchtig blickte er dem Motorboot hinterher, das schon außer Sicht war.

»Nein«, sagte sie. »Tun Sie das nicht. Das wäre noch zu gut für ihn. Überlassen Sie ihn mir - das wird Strafe genug sein. Und um ehrlich zu sein, ich brauche hn auch, um meinen Bruder zu finden. Von nun an werden wir uns wie Geschäftspartner verhalten, haben Sie verstanden, Dr. Jones?«

»Ich dachte, das sei alles -«

»Ach, halten Sie den Mund«, schimpfte Alecia und ließ ihn stehen.

Der Kapitän verstaute seine Waffe wieder in der Tasche.

»Wäre besser, Sie bezahlten mich jetzt gleich, mein Sohn. Schließlich kann ich nicht absehen, wie lange Sie bei uns bleiben werden.«

In der winzigen Kabine unter Deck breitete Indy die Kopie des Voynich-Manüskripts auf dem Tisch aus. Dann nahm er das Gummiband ab, das sein Notizbuch zusammenhielt, strich die Seiten glatt und spitzte seinen Bleistift.

Alecia kam die Treppe hinunter, hielt aber inne, als sie Indy entdeckte.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich möchte Sie nicht stören, ich suche nur die Toilette.«

»Es gibt keine«, verriet er ihr. »Ich habe schon gefragt.«

»Dann ...«

»Über Bord«, schlug er vor.

Alecia rümpfte die Nase.

»Es gibt nichts, das nicht warten kann«, verkündete sie philosophisch. »Womit sind Sie beschäftigt?«

»Ich suche nach Hinweisen.«

»Aber Sie können es doch nicht lesen«, meinte sie selbstgefällig.

»Schon, aber vielleicht sagen mir die Zeichnungen was.«

»Brauchen Sie Hilfe?«

»Ist das ein Angebot?«

»Wir haben eine zweckorientierte Übereinkunft getroffen«, sagte sie. »Und ich bin durchaus bereit, meinen Anteil einzubringen.«

»Gut. Nehmen Sie Platz. Wenn es Ihnen nichts aus-macht, könnten Sie mir ja verraten, was all das zu bedeuten hat. Sie haben doch Alistair dabei geholfen, einen Teil des Manuskripts zu entziffern, oder?«

»Ich kann mich nicht daran erinnern«, sagte sie. »Ich meine, als ich ihm bei der Übersetzung zur Hand gegangen bin, habe ich mich in einer Art Trancezustand befunden. Er war derjenige, der die Transkription aufgeschrieben hat. Und ich habe leider nicht die geringste Ahnung, was ich damals gesagt habe.«

Indy seufzte. »Wie steht es mit den Zeichnungen?«

Alecia blätterte die Seiten durch.

»Tut mir leid. Die sagen mir wirklich gar nichts. Das echte Manuskript ist natürlich farbig. Vielleicht ist das ein wichtiger Teil der Übersetzung.«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Indy. »Wir sind im Nachteil, weil wir nicht mit dem Original arbeiten. Trotzdem dürfen wir nichts unversucht lassen. Es muß doch eine Möglichkeit geben, aus dem hier eine Bedeutung abzuleiten oder den Sinn all dessen herauszufinden.«

Alecia nickte, nahm den Vorhersagestein aus der Tasche und stellte ihn auf den Tisch.

»Was haben Sie vor?«

»Nun, Sie sagten, wir müßten es versuchen. Und genau das will ich tun. Da es mit Alistair funktioniert hat, könnte es ja durchaus sein, daß es auch mit mir allein klappt.«

»Ich muß Ihnen sagen, Alecia, das hier erinnert mich ganz stark an diese Geschichte mit Arthur Conan Doyle und den Feen.«

»Es ist nicht notwendig, daß Sie daran glauben«, meinte sie. »Sie sollen sich Notizen machen, das ist alles. Und außerdem reden Sie nur so, weil Sie Ihren Ruf als Wissenschaftler nicht gefährden wollen. Ich glaube nämlich, daß

Sie das nicht nur für Unsinn oder Scharlatanerie halten, Dr. Jones. Aber Sie sind nicht bereit, das offen zuzugeben.« Indy schüttelte den Kopf.

»Alles Unsinn«, sagte er. »Aber bitte, fangen Sie an.« Alecia legte den Stein auf die Manuskriptkopie. Sie hüstelte, strich sich die Haare aus dem Gesicht und holte tief Luft. Den Stein fixierend, atmete sie aus. »Reicht das Licht?«

Mit einem Seufzer schloß Alecia die Augen. »Sie müssen still sein.«

Dann neigte sie den Kopf, öffnete die Augen wieder und starrte den Obsidianbrocken an. In den ersten zehn Minuten schien nichts zu passieren. Dann glättete sich ihre durch die Konzentration in Falten gelegte Stirn. Ihr Atem ging gleichmäßiger und langsamer, ihre Augen wurden matt und blickten ins Leere. Sie beugte sich über die Kopie. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, während sie mit der rechten Hand den Stein über die verschlüsselten Zeilen rückte.