»Die letzten Worte eines Todgeweihten sind fast immer wahr«, erwiderte Luigi.
Während die Soldaten die einzige Kajüte auf dem Schiff umzingelten, schloß der Kapitän die Augen.
»Die Kajüte ist leer«, rief einer der Soldaten auf italienisch. »Aber wir haben das hier gefunden.« Er hielt Alecias Handtasche hoch.
»Bring sie her«, sagte Sarducci.
»Dann befindet sich also keine Frau an Bord, hm?« fragte Luigi. »Ich nehme mal an, daß man als Frau immer eine Handtasche mitnimmt, wenn man eine Seereise antritt. Und da frage ich mich natürlich, was man da reinstopft.« Luigi suchte in seinen Taschen nach seiner Waffe.
»Rechnen Sie mit Schwierigkeiten?« fragte er. Umständlich schüttelte er mit seinen bandagierten Händen die Revolvertrommel auf und inspizierte die sechs glänzenden Patronenhülsen.
Sarducci durchsuchte die Handtasche.
»Ach, ich kann den Kram nicht leiden, den Frauen immer mit sich rumschleppen«, beklagte er sich und warf Lippenstift, Rouge und eine Haarbürste über Bord. »Aber das hier, das ist selbstverständlich was anderes.« Er holte den Vorhersagestein raus und hielt ihn in die Höhe. »Sie sind hier.«
Mit einer ausladenden Handbewegung klappte Luigi die Trommel wieder zu, ehe er sich dicht über das Gesicht des alten Mannes beugte. »Du hast mich angelogen. Und Lügner kann ich auf den Tod nicht ausstehen.«
Damit zog er dem Kapitän den Griff der Waffe durchs Gesicht, und zwar so fest, daß die Männer, die ihn hielten, fast umfielen. Snopes, der im Steuerhaus noch mit seinen Widersachern kämpfte, gab alle Gegenwehr auf, als ihm jemand die Mündung einer Maschinenpistole in den Rücken drückte.
Luigi befreite den Kapitän von seinem Wollknebel. Der alte Mann bombardierte ihn mit zornigen Blicken, obwohl ihm das Blut zwischen den Augen hinunterlief.
»Wo sind sie?« wollte Luigi wissen.
Der Kapitän sagte kein Wort.
»Durchsucht dieses stinkende Wrack von einem Boot«, befahl Luigi auf italienisch. »Irgendwo müssen sie ja stekken. Aber tut dem Mädchen nicht weh. Krümmt ihr kein Haar, wir brauchen sie unbeschädigt. Wenn ihr den Amerikaner findet, bringt ihn zu mir - ich möchte ihn eigenhändig töten. Nur so kann ich meinen Brüdern Respekt erweisen.«
Zehn Minuten später hatten die Soldaten jeden Zentimeter auf und unter Deck durchsucht. Wütend schritt Luigi auf dem Deck auf und ab und bellte seinen Männern den Befehl zu, das Schiff zum zweiten Mal zu durchsuchen.
»Immer mit der Ruhe«, versuchte Sarducci ihn zu beschwichtigen. »Wir haben noch nicht jeden Winkel abge-sucht. Es gibt noch eine Stelle, wo sie sich verstecken könnten - und das ist eigentlich die offensichtlichste Möglichkeit.«
»Was meinen Sie?« fragte Luigi, wie üblich schwer von Begriff. »Wo sonst sollen wir suchen? Ach, der Müll. Aber das sind ja riesige Müllberge. Müssen wir jeden von denen durchkämmen?«
Sarducci wandte sich an den Kapitän.
»Sie entsorgen Ihren Müll hier im Kanal, nicht wahr? Nun, dann machen Sie sich mal an Ihre Arbeit.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf.
»Siehst du?« sagte Sarducci zu Luigi. »Ich habe recht. Aber schließlich habe ich ja immer recht, nicht wahr? Der Mann im Steuerhaus - sag ihm, daß er den Müll abladen soll. Wenn er das nicht tut, wird er es bereuen.«
»Aber das Mädchen«, protestierte Luigi. »Wir dürfen ihr doch nichts antun.«
»Wir tun unser Bestes«, fand Sarducci. »Und Jones muß sterben, daran führt kein Weg vorbei. Falls er das Mädchen mitnimmt, können wir das wohl kaum verhindern. Außerdem können wir den Leichnam aus dem Wasser fischen. Mehr brauchen wir nicht. Sag ihm, daß er den Müll abladen soll.«
Snopes weigerte sich beharrlich.
Daraufhin stieß sein Häscher ihm die Pistolenmündung tiefer ins Kreuz. Er hörte deutlich das Klicken, als die Waffe entsichert wurde,
»Noch eins«, sagte Sarducci. »Starten Sie die Maschine, lassen Sie die Schiffsschraube laufen. Eine langsame Drehung dürfte genügen. Und drehen Sie einen weiten Kreis um unser Flugzeug.«
»Kapitän?« rief Snopes.
»Machen Sie schon«, rief der alte Mann zurück. »Gott wird Verständnis haben.«
Snopes drückte auf den Startknopf. Der Dieselmotor sprang an. Dann drückte er den Hebel für den ersten Behälter hinunter, woraufhin die hydraulischen Türen auf dem Deck nach innen schwangen. Zahlreiche Tonnen Abfall rutschten unter dem Geschrei von Ratten ins kalte Meer.
Mit gezückten Maschinenpistolen spähten die atlantici ins Wasser. Eine Wolke dampfenden Mülls verteilte sich hinten am Schiffsende bei den Schrauben.
»Ist was zu sehen?« fragte Sarducci.
»Nur Ratten«, kam die Antwort. »Unmengen von Ratten.«
»Jetzt den Rest«, ordnete Sarducci an.
Snopes bekreuzigte sich und drückte die beiden anderen Hebel hinunter.
In der dritten Ladung, unter einem Berg von Kaffeesatz, Eierschalen und Zeitungen, in die Fish and Chips und unzählige andere übelriechende Dinge eingewickelt gewesen waren, preßte Indy die um sich schlagende Alecia an sich.
»Wir werden ertrinken«, keuchte sie.
»Nein, das werden wir nicht«, meinte er. Er schüttelte eine Ratte ab, die sich an seinem Fuß festklammerte. »Bleiben Sie locker. Sparen Sie Ihre Kraft.«
Ihr Müllhaufen kam in Bewegung, als die zweite Klappe aufging und der dazugehörige Müllberg in die See gekippt wurde.
»Wenn wir im Wasser sind, tauchen Sie unter und schwimmen Sie unter Wasser, so weit Sie können, weg von den Schiffsschrauben. Tauchen Sie erst auf der anderen Seite wieder auf. So lautet der Plan.«
»Das nennen Sie einen Plan?« höhnte Alecia. »Ich kann nicht schwimmen!«
»Oh«, sagte Indy, als die Klappen unter ihnen zu stöhnen anfingen. Er hielt Alecias Hand fest. »Das ändert die Situation grundlegend. Holen Sie tief Luft und verhalten Sie sich ruhig -«
Auf einmal rutschten sie zusammen mit dem Müll nach unten. Das Wasser im Kanal war eiskalt. Indy versuchte, die Augen aufzumachen, trotz des salzigen Wassers, das auf seinen Netzhäuten brannte. Sehen konnte er nichts. Aber er spürte, wie ein Dutzend Ratten Halt suchte.
Er ließ Alecias Hand los, drehte sie unter Wasser um, schob dann seinen linken Arm unter ihre Achseln und drückte sie fest an sich.
Zusammen mit seiner Last tauchte er, so tief er konnte, strampelte mit den Beinen, schob mit der freien Hand die Wassermassen weg. Alecia bäumte sich auf und stieß ihm die Fingernägel in die Hand, aber er ließ sie nicht los. Er schwamm so lange, bis er glaubte, seine Lungen würden bersten, aber er zwang sich, nicht aufzugeben. Er hörte ein Klingelgeräusch. Grelle Blitze explodierten in seinem Kopf.
Auf einmal konnte er nicht mehr unterscheiden, wo oben und unten war. Er hatte keine Luft mehr. Das eiskalte Wasser legte seine Muskeln lahm. Seine Lungen brannten wie Feuer, und er wußte nicht, wohin er schwimmen mußte, um an die Oberfläche zu gelangen.
Da preßte er den letzten Schwall Luft aus seinen schmerzenden Lungen. Die Luftblasen stiegen nach oben, und als sie seine Wangen streiften, wußte er, welche Richtung er einschlagen mußte.
Sie durchbrachen die Wasseroberfläche. Unendlich dankbar atmete Indy die kühle Nachtluft ein. Alecia keuchte, verschluckte Wasser und erstickte beinah. Nachdem sie sich endlich beruhigt und Luft geschöpft hatte, mußte Indy ihr schnell die Hand auf den Mund legen und energisch den Kopf schütteln, um zu verhindern, daß sie schrie. Mit einem Blick gab sie ihm zu verstehen, daß sie begriffen hatte, und er nahm die Hand von ihren Lippen.