»Alecia«, keuchte er.
»Hör mal, Jones, wir könnten innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten sterben. Einer dieser schwarzgewande-ten Schläger könnte durch diese Luke treten, und das wäre unser beider Ende. Niemand, und ich meine wirklich nie -mand, würde jemals erfahren, was uns zugestoßen ist. Nun, ich versuche dir zu sagen, daß ich -«
Indy schloß ihre Lippen mit einem Kuß.
»Sag es nicht«, bat er sie. »Falls du es sagst, muß ich es sagen, und dann bist du garantiert verloren. Ich kann es nicht erklären, vertrau mir einfach. Vier- oder fünfmal warst du heute in einer Situation, wo dein Leben bedroht war, und da dachte ich, daß ich dich nicht leiden kann.«
»Wovon, zur Hölle, redest du?« Sie fischte einen Overall aus dem Berg Kleider, die er herangeschleppt hatte, und zog sich an. Indy drehte den Kopf. »Falls du mich unattraktiv findest, brauchst du es nur zu sagen. Ich bin mir bewußt, daß ich nur eine Bibliothekarin bin, Dr. Jones - aber ich meine es wenigstens ernst. Du brauchst dir keine Ausreden einfallen lassen.«
»Ich habe nur versucht, es dir zu erklären«, begann er.
»Was erklären?« Sie knöpfte den Overall zu, wischte eine Träne von der Wange und wickelte sich in die warme Decke ein.
»Daß ich es mir nicht erlauben kann, etwas für dich zu empfinden«, sprach er weiter. »Als ich vor ein paar Wochen im Dschungel war, kam ich in Kontakt mit diesem, diesem Artefakt, und darauf lastete ein besonders böser Fluch.«
»Ein Fluch?«
Indys Kopf wippte auf und ab. Das Wippen rührte nicht von einem Zittern her, war auch kein Nicken, sondern irgend etwas dazwischen.
»Verzeih mir, aber du hättest dir etwas Besseres einfallen lassen sollen«, meinte Alecia. »Ich hätte erwartet, daß du mir gestehst, du seist verheiratet, oder daß deine Verlobte an einer schrecklichen Krankheit leidet und im Sterben liegt, oder daß du eine Kriegsverletzung hast. Aber ein Fluch? Das ist eine ziemlich billige Ausrede, finde ich.«
Indy schluckte schwer.
»Nicht nur, daß du mich nicht attraktiv findest, du vertraust mir auch nicht. Warum fällt es dir so schwer, jemandem Vertrauen zu schenken? Nein, antworte mir nicht, das macht keinen Unterschied. Es ist das beste, wenn ich mich daran erinnere, daß ich mich nur auf dieses ... Abenteuer eingelassen habe, um meinen Bruder zu finden.«
»Alecia«, warf Indy ein. »Ich möchte einfach nicht, daß irgend etwas geschieht.«
»Das hast du mir verdammt deutlich zu verstehen gegeben«, sagte sie. »Falls es dir nichts ausmacht, werde ich mich jetzt etwas ausruhen. Sollte ich in ein paar Stunden erschossen werden, wäre ich gern ausgeruht.«
Als das Dröhnen der Motoren leiser wurde, wachte Indy auf. Strahlen gebündelten Sonnenlichts fielen durch die runden Steuerbordfenster in den Laderaum ein, als das Flugboot an Höhe verlor. Offenbar setzte der Pilot zum Landeanflug in Ostia, einem Flugbootstützpunkt in der Nähe von Rom, an.
Balbos Geschwader war, wie Indy vom Fenster aus erkennen konnte, schon an den Docks festgezurrt. Die Flugzeuge erinnerten ihn an eine Schar gigantischer kanadischer Gänse. Im Hafen lagen Schiffe unterschiedlichster Größe und Bauart, und Kanonenboote schössen Wasserfontänen in die Luft, um den Triumph gebührend zu feiern.
»Alecia«, sagte Indy. »Es ist Zeit.«
»Nein«, murmelte sie. »Laß mich noch ein wenig schlafen.«
»Okay, aber dann wirst du deine Exekution verpassen«, scherzte er mit ihr.
Da schlug sie die Augen auf.
»Ich dachte, das alles sei nur ein Traum gewesen«, flüsterte sie verschlafen.
Sie setzte sich auf und rieb ihre müden Augen. »Mein Gott, ich bin also immer noch in diesem gräßlichen Flugboot. Aber es ist wenigstens wieder warm. Gehst du wirklich davon aus, daß sie uns erschießen werden?«
»Ja, es sei denn, sie finden uns nicht«, meinte Indy. »Hilf mir, dieses Durcheinander zu beseitigen. Möglicherweise können wir uns in den Umkleideschränken verstecken und dort warten, bis die anderen verschwunden sind und wir in aller Ruhe fliehen können.«
KAPITEL SECHS. Turm der Winde
Lange nachdem die Motoren verstummt und die SM.55 fest vertäut war, entstieg ein ungleiches Mechanikerpärchen der vorderen Luke auf der Steuerbordseite des Flugschiffes und lief mit wackeligen Knien die Gehplanke zum Dock hinunter. Der größere von beiden hatte einen roten Werkzeugkasten bei sich, während der kleinere, dessen Gesicht unter der weiten Pilotenkappe kaum zu erkennen war, ein paar Schritte Abstand hielt. Am Ende der Planke wartete ein auf sein Gewehr gestützter faschistischer Soldat und rauchte eine Zigarette. Er beäugte das näher kommende Paar skeptisch.
Indy nickte, als sie an ihm vorbeikamen.
»Uno momento«, rief der Soldat, schob die Waffe in die Armbeuge und kramte in seiner Brusttasche nach einem Blatt Papier, das er gewissenhaft auffaltete und mit der Zigarette im Mundwinkel überflog.
Indy grinste.
»Mozzarella«, murmelte er.
»Che ha detto!« fragte der Soldat, ohne von der Liste aufzublicken. Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, bevor er sie ins Wasser warf.
Indy zeigte mit dem Daumen auf Alecia.
»Ravioli.«
Alecia nickte, was sie besser unterlassen hätte, weil eine Strähne ihres roten Haars aus der Kappe rutschte und über ihr rechtes Auge fiel. Der Soldat war im ersten Moment verblüfft. Doch dann ließ er die Liste fallen und versuchte, das Gewehr zu ziehen.
Indy schlug ihm den roten Werkzeugkasten an die Schläfe. Das Gewehr landete klappernd auf der Planke, und der Soldat fiel rücklings über die Brüstung ins Wasser.
Mit einer Kopfdrehung vergewisserte Indy sich, ob jemand etwas gesehen hatte. Glücklicherweise waren sie allein auf dem Dock. Mit dem Rand seines Schuhs katapultierte er das Gewehr ins Wasser.
Hinter einem Lagerschuppen entledigten sie sich ihrer Overalls. Darunter trugen sie ihre eigene, inzwischen getrocknete Kleidung.
Indy öffnete den Werkzeugkasten, holte seinen Ledersack raus und machte sich schwerfällig daran, seine Lederjacke anzuziehen.
»Mozzarella und Ravioli?« fragte Alecia. Die Pilotenkappe warf sie ins Wasser. Mit den Fingern kämmte sie provisorisch ihr Haar. »Mehr ist dir für uns nicht eingefallen? Warum nicht Botticelli und Raphael, oder Polo und Colum-bus? Und was hast du gegen Marconi einzuwenden? Ich mag ihn.«
Indy setzte den verknautschten, von Wasserflecken verunstalteten Fedora auf und versuchte, den welligen Rand wieder in Form zu bringen.
»Ich bin immer noch hungrig«, lautete seine Erklärung.
Der Fahrer, der sich nur mit Höchstgeschwindigkeit fortbewegte, sprach kein Wort Englisch, setzte aber nichtsdestotrotz zu einem Monolog an, der nur durch kurzes, heftiges Hupen und lautes Schimpfen über die Dummheit der anderen Autofahrer unterbrochen wurde. Nach kurzer Fahrt erreichten Indy und Alecia Rom. Die Räder des alten gelben Fiats hielten nur ein einziges Mal - vor dem Inghilterra in der Via Bocca di Leone.
»Ich nehme mal an, daß er davon ausgeht, daß alle Englisch sprechenden Menschen auch im Hotel England übernachten«, meinte Alecia, als Indy dem Fahrer ein paar Lire in die ausgestreckte Hand drückte. »Ich habe schon so viele Geschichten über dieses Hotel gehört, aber natürlich nie gedacht, daß ich selbst einmal hier absteigen würde. Wie wunderbar wird es sein, zu baden und die Kleider zu wechseln.«