»Ja?« fragte Alecia. »Warum versuchst du dann nicht, mich zu hassen? Das wäre wenigstens ein intensives Gefühl. Du hast schon gesagt, daß du mir nicht über den Weg traust. Und da dürfte es dir eigentlich nicht schwerfallen, mich richtiggehend abstoßend zu finden.«
Indy wandte den Blick ab.
Alecia beugte sich über den Tisch.
»Versuch es, Jones«, flüsterte sie. »Schau mir in die Augen und sag mir, daß du mich haßt. Sag mir, daß du bisher noch niemanden so gehaßt hast, daß du dich niemals so unbeherrscht gefühlt hast in Gegenwart eines Menschen, daß ich dich dazu bringe, laut aufzuschreien.«
Indy spürte ihren Atem im Nacken.
»Sag es«, murmelte sie und nahm sein Gesicht in die Hände. »Sag mir, daß du mich auf den Tod nicht ausstehen kannst.«
Als der Kellner nahte, berührten sich ihre Lippen.
Indy hüstelte und stellte den Jackettkragen auf. Alecia verschränkte die Arme vor der Brust und starrte an die Dek-ke. Insgeheim verfluchte sie das schlechte Timing des Obers.
»Dann laß uns mal zum geschäftlichen Teil zurückkehren«, schlug sie vor, nachdem der Kellner verschwunden war. »Bis hierher haben wir es geschafft. Jetzt ist es kurz nach zehn. Heute nacht können wir nichts mehr unternehmen, das liegt auf der Hand. Das heißt, wir können uns erst morgen früh in die Startlöcher begeben. Wie lautet dein Plan, Jones?«
»Ich habe mir vorgenommen, Sarducci aufzuspüren. Er ist quasi die Hauptperson in diesem Verwirrspiel. Er trägt die Verantwortung für den Diebstahl des Manuskripts, für das Verschwinden Alistairs, für die Anschläge auf dich.« Er wagte es nicht, den Kristallschädel anzusprechen.
»Sarducci muß wissen, wo Alistair steckt«, meinte Alecia. »Er hat bestimmt nicht nur aus Spaß versucht, uns zu töten.«
»So weit würde ich nicht gehen«, sagte Indy. »Meiner Ansicht nach ist der Mann zu fast allem fähig.«
»Ironie des Schicksals, nicht wahr?« behauptete Alecia. »Wir waren mit diesem Verrückten an Bord desselben Flugzeugs, mußten Angst haben, jeden Augenblick zu sterben, und nun werden wir uns auf die Suche nach ihm machen. Aber wie wollen wir das anstellen?«
»Das ist ganz einfach«, sagte Indy. »Er ist der Kurator irgendeines Museums für Altertum und- nicht zu vergessen - ein ziemlich wichtiges Mitglied von Mussolinis Geheimpolizei. Wir müssen ihn allerdings allein erwischen. Die eigentliche Frage lautet: Was stellen wir mit ihm an, wenn wir ihn haben?«
Die Glockenuhren der Stadt schlugen neun Uhr, als Alecia und Indy am darauffolgenden Morgen zusammen durch die bronzenen Türen des Museums für Altertum schritten. Auf jedem Türflügel prangte ein Fasces, das Symbol des alten Rom: ein Rutenbündel mit Beil als Zeichen der unbeugbaren Macht des Staates.
Alecia trug eine Sonnenbrille und hatte ein Tuch um den Kopf gewickelt. Indy hatte den Fedora tief in die Stirn gezogen.
»Du hättest nicht mitkommen sollen«, sagte Indy, als sie Seite an Seite durch die Eingangshalle gingen und - ohne sich lange aufzuhalten - einen Führer kauften. »Hier ist es viel zu gefährlich für dich.«
»Nichts tun«, höhnte Alecia. »Ich denke nicht im Traum daran, allein in einem Hotelzimmer zu sitzen und zu warten. Ich bin hier, um meinen Bruder zu suchen. Und außerdem, was können die uns schon in einem Museum anhaben?«
Indy versagte sich eine Antwort. Sie kamen an einem funktionstüchtigen Modell einer Guillotine aus der Zeit der Französischen Revolution vorbei. Das Beil war ziemlich realgetreu mit dem Blut von Intellektuellen und Aristokraten verschmiert.
»Ziemlich blutrünstig, findest du nicht?« fragte Alecia ihn.
»Faschismus beruht auf Gewalt«, dozierte Indy. »Der Staat ist erhaben, und der einzige Zweck des Staates ist die Kriegsführung. Mussolini höchstpersönlich vertritt diese These, das ist sein Beitrag zum zwanzigsten Jahrhundert. Hast du die Karte?«
Alecia schlug den Führer auf.
»Hier gibt es einen Lageplan«, sagte sie. »Ich gebe dir mein Wort, in diesem Museum ist es wie in den Katakomben. Fällt dir etwas auf, wo sich Sarduccis Büro verstecken könnte?«
»Ach hier«, fuhr sie fort. »Maestro di archeologia.«
»Das müßte es sein«, vermutete Indy. »Hier entlang.«
Sie bogen in einen langen Korridor ein, auf dessen Mar-morboden ihre Schritte widerhallten. Schließlich gelangten sie zu einer schweren Eichentür mit einem Messingschild: LEONARDO SARDUCCI.
»Vielleicht ist er nicht da«, hoffte Alecia.
»Der ist da«, sagte Indy. »Ich kann ihn riechen.«
»Und nun, klopfen wir an, oder was?«
Indy streckte die Hand nach der Türklinke aus, aber ehe er sie erwischte, ging die Tür nach innen auf. Ein dunkelhaariges italienisches Mädchen in einer weißen Bluse und einem grauen Rock lächelte sie an.
»Dottore Jones?« fragte sie. »Signorina Dunstin. Bitte, treten Sie ein. Der Maestro erwartet Sie schon.«
»Himmel«, entfuhr es Indy.
»Großartiger Plan, Jones«, merkte Alecia an.
»Es ist schon in Ordnung«, sagte die Sekretärin. »Kommen Sie herein. Dottore Sarducci wird gleich zu Ihnen stoßen. Möchten Sie etwas trinken? Vielleicht einen Kaffee? Oder Tee?«
Sie traten in den Vorraum. Die Sekretärin führte sie zu einem Sofa und servierte ihnen Tee und Kaffee auf einem silbernen Tablett. Sie schenkte ein.
»Mein Name ist Caramia«, stellte sie sich höflich vor. »Gefällt Ihnen bislang Ihr Aufenthalt in Rom?«
»Sehr gut«, antwortete Indy mit einem Lächeln.
Alecia stieß ihm den Ellbogen in die Rippen.
»Tut mir leid«, sagte Indy.
»Vergiß nicht, daß es diese Leute waren, die uns zu töten versucht haben«, erinnerte sie ihn. »Und woher sollen wir wissen, daß diese Tassenränder nicht mit Zyanid bestrichen sind?«
»O nein, da brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen«, wandte die Sekretärin ein. »Das Büro eines Men-sehen ist - wie sagt man noch im Englischen - ein Refugium. Der dottore meint, daß man niemals das eigene Nest mit Blut besudeln darf. Es gibt Orte, an denen man sich wie ein wildes Tier aufführt, und Orte, wo man sich wie ein Mensch verhält, nicht wahr?«
»Ihr Doktor ist sehr klug«, bemerkte Indy. »Verrückt, aber klug.«
»Vielleicht«, sagte sie. Caramia schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und gab einen Teelöffel Zucker dazu. »Im Alter von sechzehn Jahren wurde ich von meinen Eltern in eine Irrenanstalt gesteckt, weil ich ihnen den Gehorsam verweigerte. Ich wollte nicht den Mann heiraten, den sie für mich ausgesucht hatten, weil ich ihn nicht liebte. Ich kam mir wie eine Prostituierte vor. Dabei ging es um eine geschäftliche Vereinbarung - meine Eltern hatten meine Mitgift ausgegeben. Sie behaupteten, ich würde diesen Mann noch lieben lernen, aber das war unmöglich für mich. Er schlug seine Tiere, und er schlug mich. Also lief ich weg, und sie steckten mich in die Anstalt. Damit ich wieder zur Vernunft komme, meinten sie. Nun, der dottore hat mich gerettet. Er hat mir meine Würde zurückgegeben, und dafür werde ich ihm für immer dankbar sein.«
»Er bringt Menschen um«, gab Indy zu bedenken.
Caramia zuckte mit den Achseln.
»Das ist nur ein Wort«, meinte sie. »Zum Vergnügen töten, das ist Mord. Für das eigene Land zu töten ist heldenhaft.«
»Haben Sie keine Angst vor der Polizei?« fragte Alecia das Mädchen.
»Der dottore ist die Polizei.« Und dann lächelte Caramia wie Mona Lisa über den Rand ihrer Tasse hinweg.
Eine Klingel auf ihrem Schreibtisch ertönte.
»Er wird Sie nun empfangen.« Sie stellte ihre Tasse auf dem Tisch ab. »Bevor Sie reingehen«, sagte sie. »Ihre Pistole. Die Peitsche dürfen Sie behalten.«