Die Limousine hielt an.
»Wir sind da«, rief die Frau.
»Wo denn?« fragte Alecia.
»Was ... im Vatikan natürlich«, verriet ihr die Frau. »Sie sagten doch, Sie möchten Ihren Freund aus Amerika besuchen, nicht wahr? Nun, er verbringt hier einen Großteil seiner Zeit damit, über verstaubten Akten zu brüten. Richten Sie ihm bitte von uns aus, daß er öfter mal nach draußen gehen sollte, ja?«
»Aber sicher«, versprach Indy.
Sebastian öffnete den Wagenschlag.
»Auf Wiedersehen«, verabschiedete sich der alte Mann. »Und gehen Sie mit Gott.«
»An Ihrer Stelle würde ich mir ein Paar Schuhe zulegen«, riet ihm die alte Frau. »Sie werden sich noch erkälten, wenn Sie in dieser Kälte nur in Strümpfen herumlaufen.«
Und schon war die Limousine verschwunden.
Indy und Alecia betraten Vatikan-Stadt durch das Tor der Heiligen Anna und gingen die kurvige Straße zum Belvedere-Hof hinunter. Am Fuß der Treppe, die zur Bibliothek des Vatikans hochführte, neben der Statue des Gegenpapstes Hippolytus aus dem 3. Jahrhundert, erkundigte sich ein Mitglied der Schweizer Garde in blaugelber Uniform nach dem Grund ihres Kommens.
»Wir möchten Professor Morey sehen«, sagte Indy. »Ich bin ein Kollege von der Princeton University.«
»Er befindet sich in den Geheimarchiven«, erwiderte der Guard in makellosem Englisch. »Sie sind im Turm der Winde untergebracht. Aber dafür brauchen Sie eine Erlaubnis vom Präfekten.«
»Nein«, sagte Alecia. Sie strich eine Haarlocke aus den Augen und fixierte ihn mit ihrem Blick. »Wir haben keinen Ausweis. Aber falls Dr. Morey eine Erlaubnis erhalten hat, ist es uns doch sicherlich gestattet, ihn dort zu besuchen.«
Der Guard blinzelte, als hätte er gerade etwas Wichtiges vergessen.
»Der Turm der Winde«, wiederholte er.
»Ja, danke«, sagte Alecia.
Zusammen mit Indy stieg sie die Stufen hoch. Der Wachposten regte sich nicht von der Stelle.
»Wie hast du das angestellt?« wollte Indy wissen.
»Was angestellt?« fragte sie unschuldig. »Warum nennt man es Geheimarchiv, wenn man Besuchern Ausweise gibt und die Erlaubnis erteilt, darin herumzustöbern?«
»Das Archiv war jahrhundertelang geheim«, führte Indy aus. »Darin untergebracht sind die persönlichen Archive der Päpste, die erst im Jahre 1881 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Journalisten und Fotografen dürfen immer noch nicht hinein.«
»Wieviel Material liegt da?«
»Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Das Archiv hat kein vernünftiges Schlagwortregister. Ich weiß nur, daß es dort siebeneinhalb Meilen Regal mit Tonnen von Material gibt. Morey ist seit Jahren damit beschäftigt, die Sammlung früher Christenkunst für den Vatikan aufzubereiten.«
Nachdem sie an einem zweiten Wächter der Schweizer Garde vorbeikamen, der momentan etwas verwirrt war, was seine Pflicht betraf, fanden sie Charles Rufus Morey im Meridian-Raum unter einem riesigen Gemälde, auf dem ein Sturm über dem Galiläischen Meer dargestellt war. Mit hochgeschobener Brille versuchte er gerade, einen schweren Lederband vom obersten Regalbrett zu ziehen.
»Lassen Sie mich Ihnen helfen«, schlug Indy vor, nahm ihm das Buch ab und packte es auf den Tisch.
»Danke, Jones. Jones!« rief Morey. Die Brille rutschte auf die Nase zurück, und er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Was machen Sie denn hier? Sie müssen in einer Stunde zum Unterricht, falls Sie es vergessen haben. Sie werden es niemals schaffen, rechtzeitig zurück zu sein.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Sir«, sagte Indy. »Das ist eine lange Geschichte, aber man kümmert sich um meine Studenten. Das hier ist Alecia Dunstin. Wir sind gerade mit einer ziemlich wichtigen - nun, Recherche - beschäftigt und sind gekommen, um Ihre Hilfe zu erbitten.«
»Hilfe? Was für Hilfe brauchen Sie?«
Indy zog einen Stuhl heran und setzte sich neben Morey.
»Was sagt Ihnen der Name Voynich?« fragte er.
Zwei Stunden später zog Charles Rufus Morey ein Taschentuch heraus und putzte seine Brille. »In der Tat ein besonders kniffliges Problem«, sagte er. »Und das wird nicht nur in der akademischen Welt Konsequenzen nach sich ziehen. Sagen Sie mir, Jones, ist immer auf Sie geschossen worden, während Sie in Princeton gewesen sind?«
»Nein, Sir.«
»Das will ich hoffen. Nun, lassen Sie mich sehen, ob ich Ihnen behilflich sein kann. Es wird nichts bringen, der Villa Mondragone in Frascati einen Besuch abzustatten, wo das Manuskript gefunden wurde, denn die Archive dort sind verlegt worden. Außerdem habe ich den Eindruck, daß es eh nur aus Zufall dorthin gelangt ist. Ich mag falsch liegen, da mein Steckenpferd die Kunstgeschichte ist, aber ich halte es durchaus für möglich, daß die Farben im Manuskript der Schlüssel sind. Suchen Sie nach der Antwort nicht in einem Buch, suchen Sie sie in der Kunst.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»In früheren Jahrhunderten war es nichts Ungewöhnliches, geheime Informationen beispielsweise in einem Gemälde oder in einer Buchillustration oder gar in den Buntglasfenstern von Kathedralen unterzubringen. Versteckt und doch ohne Schwierigkeiten zu sehen. Schauen Sie sich das einmal an.« Morey suchte eines der Bücher auf dem Schreibtisch heraus und schlug die erste Seite auf, wo ein illustriertes Manuskript aus dem 12. Jahrhundert abgebildet war.
»Sehen Sie diese hübschen Umrandungen?« fragte er. »Die sind nicht nur schön, sondern bieten dem geübten Auge auch eine Fülle an Informationen. Ich bin gerade dabei, sie zu verstehen.«
»Und wonach soll ich dann suchen?«
»Wie soll ich das wissen?« fragte Morey. »Aber die Farben, die Sie in Zusammenhang mit dem Manuskript erwähnten - schwarz, rot, grün und gold - sind auch die
Farben der alchemistischen Progression. Suchen Sie nach etwas, in dem diese Farben dominieren.«
Indy legte den Zeigefinger auf die Lippen, als versuche er, sich an etwas überaus Wichtiges zu erinnern. Es lag ihm auf der Zunge, als Alecia ihn aus seinen Überlegungen riß.
»Was ist das?« wollte sie wissen.
Sie zeigte nach oben. An der Decke war ein Pfeil, der einer Kompaßnadel ähnlich sah.
»Das, meine Liebe, ist ein Anemoskop«, sagte Morey. »Darum nennt man diesen Ort hier Turm der Winde. Die Meßnadel ist mit einem Windrad draußen verbunden, und so wie der Wind sich verhält, bewegt sich auch diese Nadel. Wurde im 16. Jahrhundert von Papst Gregorus XIII. erbaut, als Teil eines astrologischen Observatoriums. Es sollte helfen, die Daten für einen neuen Kalender zu erstellen. Das Konzil von Trent, wissen Sie, hatte entschieden, daß mit dem alten Kalender etwas nicht stimmte, weil die Frühlings-Tagundnachtgleiche Jahr um Jahr früher stattfand.«
Morey trat vor das Gemälde, auf dem der Sturm abgebildet war.
»Sehen Sie hier«, sagte er. »Hier gibt es eine Mundöffnung bei der Figur, die für den Südwind steht. Dadurch fiel Sonnenlicht ein, und zu den verschiedenen Jahreszeiten markierte ein Jesuitenpriester die Stelle am Boden, auf die der Sonnenstrahl fiel. Auf diese Weise bestimmten sie die wahre Länge eines Jahres mit der minimalen Abweichung von einem Tag alle dreitausend Jahre. Auf diesen Berechnungen basiert der Kalender, den wir heute benutzen. Der gregorianische Kalender.«
Während Indy das Gemälde mit dem Sturm über dem Meer betrachtete und die Öffnung, durch die die Sonnen-strahlen eingefallen waren, ergab auf einmal alles einen Sinn.
» Professor«, fragte er. »Wo scheint die rote Sonne?« »Über dem Roten Meer.«
»Richtig«, sagte Indy. »Und wo an der Küste des Roten Meeres findet man italienische Erde?« »In Libyen«, sagte Alecia.
KAPITEL SIEBEN. Sandwüste