»Wir sind hier, wo die beiden Linien sich kreuzen«, verkündete er.
»So weit, so gut, Indy«, sagte Sallah. »Nun wissen wir mit Sicherheit, wo wir sind. Aber wie sollen wir das Grab finden, wo es doch nicht auf der Karte eingezeichnet ist? Wir müssen den exakten Standort beider Punkte kennen, bevor wir eine Wegstrecke ausarbeiten.«
Indy schaute zu Alecia hinüber.
»Wir müssen uns deinen Rücken ausborgen.«
Alecia griff nach hinten und zupfte den Knoten auf, der ihr Kleid zusammenhielt. Um sich nicht ganz zu entblö -ßen, hielt sie den Stoff auf der Vorderseite krampfhaft fest.
»Alistair«, bat Indy. »Es wäre besser, wenn Sie mir nun behilflich wären. Ich kann die Messungen vornehmen, weiß aber nicht, was ich damit anfangen soll.«
»Es dürfte eine Zeitlang dauern«, meinte Alistair, »aber ja, ich denke, ich werde ein Ergebnis finden.«
Alecia machte einen Satz, als Indy ihr den Winkelmesser und das Lineal auf den Rücken legte.
»Tut mir leid.«
Indy kritzelte die benötigte Information in das Notizbuch und händigte es Alistair aus. Der nahm Indys Bleistift, setzte sich auf einen Stein und rubbelte mit dem Ende des Radiergummis durch seinen Bart.
»Wissen Sie eigentlich, wie lange ich auf diese Information gewartet habe?« fragte er beim Arbeiten. »Und nie habe ich sie erhalten. Ich nehme mal an, der beste Ort, etwas zu verstecken, ist dort, wo jeder es sehen kann.«
»Meinen Rücken«, beschwerte Alecia sich, »darf nicht jeder sehen.«
»Entschuldige«, sagte Alistair. »Aber bedenke doch, wir sind zusammen aufgewachsen. Ab und an habe ich deinen Rücken gesehen, wahrscheinlich sogar öfter als du, denn ich kann mich nicht entsinnen, daß du deinen Rücken oft im Spiegel untersucht hast.«
Auf dem ersten, dann auf dem zweiten Blatt notierte Alistair seine Berechnungen. Hin und wieder hielt er inne, schnitt eine Grimasse und radierte ein paar Zahlenreihen aus. In regelmäßigen Abschnitten spitzte er den Bleistift mit seinem Taschenmesser. Als er fertig war und Gradzahlen, Minuten und Sekunden auf der Karte eingetragen hatte, war von dem Bleistift nur noch ein Stummel übrig.
»Fertig«, rief Alistair.
Indy betrachtete die Koordinaten und markierte eine besonders zerklüftete Gegend mit einem Kreuz, das er dann durch eine Linie mit ihrem Standort verband, ehe er Winkel und Entfernung berechnete.
»Glauben Sie, daß Ihre Berechnungen stimmen?« fragte Indy nach.
»Dürften hinkommen«, meinte Alistair. »Wenn nicht, wäre uns der Standort des Grabes nicht in den Schoß gefallen.«
»Alecia«, fragte Indy, »ich möchte ja nicht unverschämt sein, aber hat Sarducci Fotos von deinem Rücken gemacht oder Skizzen erstellt?«
»Von meinem Rücken? Nein, bestimmt nicht.«
»Gut. Dann dürften wir auch nicht verfolgt werden, selbst wenn er den Sandsturm überlebt hat.«
»Halten Sie das denn für möglich?« fragte Alistair.
Indy blickte zu ihm hinüber.
»Ja, es sei denn, jemand serviert mir einen Glatzkopf auf einem silbernen Tablett. Doch bis dahin gehe ich davon aus, daß der Mann überlebt hat.«
»Das muß man wohl«, murmelte Alistair.
»Wir sind weniger als zwölf Kilometer weit weg«, erklärte Indy den anderen. »Sallah, ich möchte, daß du den Kompaß nimmst und uns auf dem Kurs von siebenundvierzig Grad hältst. Keine Abweichung! Das Ganze wird nicht so einfach werden, wie es sich jetzt anhört, weil das Grab in einem geschützten Tal liegt. Ist gut möglich, daß wir eine ganze Zeit lang suchen und klettern und Geröll wegschaufeln müssen. Prinz, erlauben Sie uns, Ihre Männer als Ausgräber anzuheuern?«
»Bringen Sie mich in eine Oase«, erwiderte Farqhuar vorsichtshalber auf englisch, »und dann können Sie sie zum Mittagessen grillen.«
Nach drei Stunden hatten die sieben Gefährten den Eingang zum Tal erreicht. Sie folgten einem schmalen Fußweg, der sich zwischen den Felsen durchschlängelte. Indy lief an der Spitze der Gruppe. Zu Fuß führte er das weiße Pferd in die Senke hinunter.
»Hier ist etwas«, verkündete er. »Dieser Pfad wurde von Arbeitern angelegt. Er gleicht dem im Tal der Könige. Und seht euch nur mal diese Geröllhalden an. Die sind nicht natürlich entstanden - das ist Abfall, Splitter von behauenen Steinen, die hier im Tal verstreut wurden, um von dem abzulenken, was hier vorgegangen ist.«
»Ich kann keinen Unterschied erkennen zwischen dem hier und allen anderen Gegenden, die wir durchquert haben, seit wir Libyen verlassen haben«, meinte Alecia. »Indy, du mußt gute Augen haben.«
»Meinen scharfen Blick habe ich Sallah zu verdanken«, verriet er. »Er hat mir beigebracht, die Zeichen zu deuten. So etwas erfährt man nicht aus den Büchern, mußt du wissen.«
Das weiße Pferd gebärdete sich auf einmal widerspenstig, scharrte im Erdreich und zerrte am Zaumzeug, das Indy hielt. Zur Beruhigung klopfte Indy der Stute auf den Hals, aber er rutschte vom Pfad, als das Pferd ihn weiterzog.
»Was hat sie denn?« erkundigte sich Alecia.
»Sie riecht Wasser«, sagte Sallah.
Indy ließ sich von dem Tier um die nächste Biegung führen, von wo aus man einen herrlichen Ausblick aufs Tal hatte. Dort unten lag tatsächlich eine Oase, ein funkelnder, von Palmen gesäumter Teich. Ein paar Krähen hockten krächzend auf dem Wipfel des höchsten Baumes.
»Wir haben es geschafft«, rief er.
Indy setzte sich unter eine schattenspendende Palme, lehnte sich an den rauhen Baumstamm und aß eine Dattel. Sal-lah, der neben ihm saß, verzehrte eine Feige.
»Das ist wirklich wie im Paradies«, sagte Sallah.
Indy murmelte seine Zustimmung. Er beobachtete Alecia, die sich am Ufer des Teiches hingekniet hatte und das Gesicht wusch.
»Könnte ein Bild aus der Bibel sein«, meinte Indy.
»Diese Engländerin? Bedeutet sie dir etwas?«
»Etwas«, antwortete Indy.
»Es tut mir leid, wenn ich mich dir aufdränge«, entschuldigte sich Sallah. »Du möchtest nicht darüber sprechen.«
»Du drängst dich mir nicht auf«, beruhigte Indy seinen Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin einfach nur nicht in der richtigen Stimmung. Aber da gibt es etwas, wozu ich gern deinen Rat hören würde, wenn wir sicher heimgekehrt sind. Möglicherweise muß ich dich sogar um deine Hilfe bitten.«
»Kein Problem. Du brauchst nur zu fragen.«
Alecia saß auf der obersten Stufe einer Art Treppe, die ins Wasser führte. Sie streckte ihre Beine ins kühle Naß und seufzte vor Erleichterung. Dann schaute sie sich um, zögerte einen Moment und glitt in den Teich. Als ihr das Wasser bis zu den Schultern reichte, zog sie ihr Kleid über den Kopf und warf es ans Ufer.
»Wie schätzt du diesen Ort hier ein?« fragte Indy. »Seit wir zu dieser Oase gelangt sind, mache ich mir Gedanken.«
»Sehr gut«, sagte Sallah und wählte eine Dattel aus dem Früchteberg neben ihm aus. »Hier wurde offensichtlich hart gearbeitet. Ich habe die Felswände studiert, habe aber keinen der üblichen Plätze entdeckt, wo man normalerweise ein Grab versteckt, wie zum Beispiel in einer Felsspalte.«
»Stimmt.«
»Was mir komisch vorkommt«, fuhr Sallah fort, »ist die Oase. Die stammt von Menschenhand, sie ist nicht natürlich entstanden, sondern künstlich angelegt. Hier dürfte es eigentlich keine Oase geben. Und das Wasser - es ist ungewöhnlich warm, als würde es unter der Erde in Kesseln er-hitzt. Und da sind noch diese Steinstufen, die ins Nichts führen.«
»Vielleicht auch nicht«, gab Indy zu bedenken. »Die Indianer in Amerika glaubten, daß Wasserteiche als Übergänge zur spirituellen Welt dienen. Vielleicht führt diese Treppe ja zu so einem Übergang.«