»Bernabe«, sagte er und zückte seine Brieftasche. »Du kannst jetzt deinen Bonus kriegen.«
Der Nebel, der vorhin die untergegangene Stadt Cozan eingehüllt hatte, hatte sich aufgelöst, als Indy und sein Führer aus dem Pyramidensockel geklettert kamen. Das Sonnenlicht reflektierte von den weiß gekalkten Wänden der Stadt und schmerzte ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Indy legte die Hand über die Augen und wartete, bis sich seine Pupillen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Als er wieder richtig sehen konnte, begann er, die Spinnweben und den Staub von seinen Klamotten zu klopfen.
»Hören Sie«, sagte Bernabe.
Indy hielt in der Bewegung inne.
Gedämpftes Donnern drang aus südlicher Richtung zu ihnen herüber.
»Was ist das?« wollte der Führer erfahren.
Das Geräusch schwoll an.
»Motorenlärm«, sagte Indy. »Stammt von einem Flugzeug.«
Das heisere Brummen zweier Motoren mit achthundert PS erfüllte den Himmel. Schließlich entdeckte Indy strahlendes Weiß über den Bäumen, die im Süden standen, direkt über dem Fluß.
»Sieh doch!« rief er aus.
Über der Stadt tauchte ein Flugzeug auf, dessen Schatten den Tempel einhüllte. Das funkelnde Weiß ließ sich mit nichts vergleichen, was Indy bislang gesehen hatte. Die Form erinnerte ihn an eine riesige, einem Boomerang ähnelnde Tragfläche, unter der zwei Rümpfe klebten. Jeder Rumpf wies eine Reihe von runden Schießscharten auf, die nach unten ausgerichtet waren. Aus dem Bug der Kabinen ragte jeweils ein Gewehrlauf. Das breite Flugzeugende wurde von Balken gestützt, die aus den Enden der beiden
Rümpfe hervorsahen. Die Ruder waren mit drei roten Sternen auf einem weißen Feld verziert, eingerahmt von einem grünen Kreis.
Das hier ist kein Wasserflugzeug, fuhr es Indy durch den Kopf, das ist eher ein riesengroßer flugfähiger Katamaran. Die Flügelspannweite, schätzte er, kam an die Länge eines Fußballfeldes heran. Die beiden großen Motoren waren Rücken an Rücken mitten auf der Tragfläche befestigt, auf einer stativähnlichen Stütze, und verfügten je über einen dreiflügeligen Propeller, der anschob, und einen, der zog. Durch die rechteckigen Fenster eines erhöhten Cockpits in der Mitte der Tragfläche konnte Indy einen Piloten und einen Co-Piloten erkennen. Sie trugen die gleichen grauen Uniformen mit schwarzen Streifen, die auch schon Marco getragen hatte. Das Flugzeug war so tief, daß Indy auch Sarducci ausmachen konnte, der zwischen den beiden Piloten stand, sich mit den Händen auf deren Schultern abstützte und lachte.
»Auf den Boden!« rief Indy.
Die Waffen vorn begannen zu knattern.
Indy gab Bernabe einen Schubs und sprang in die andere Richtung. Der guatemaltekische Führer ging in Deckung, als Kugeln auf die Steine zwischen ihm und Indy hagelten. Steinsplitter kratzten über Indys Wange, und ein Querschläger sauste so dicht an ihm vorbei, daß sein ganzer Körper unter dem eigenartigen Jammern zu vibrieren schien. Indy biß die Zähne zusammen und zog sich mit beiden Händen den heißgeliebten Fedora in die Stirn.
Das Gewehrfeuer verebbte.
Das Motorengeräusch wurde leiser.
Indy spähte unter seinem Hutrand hervor. In der Ferne spiegelte sich in den Fenstern auf der Steuerbordseite die
Sonne. Das Flugzeug setzte in weitem Bogen zur Kehrtwende an.
Schnell kam Indy wieder auf die Beine und zog Bernabe am Hemdkragen hoch. »Das ist unsere Chance«, sagte er. »Wir müssen von hier verschwinden, bevor sie zurückkehren und zum zweiten Mal auf uns schießen.«
Die beiden Männer rannten quer über den Hof, suchten Deckung hinter einzelnen größeren Steinen und Unrat, der sich hier im Lauf der Zeit angesammelt hatte. Dann flohen sie die Straße der Toten hinunter, die kürzeste Strecke zu den schützenden Bäumen.
Am Rand des Regenwaldes legte Indy eine Pause ein und drehte den Kopf in Richtung Flugzeug, das seine Kehrtwende vollendet hatte und sich ihnen nun aus dem Osten näherte. Sein Brustkorb hob und senkte sich, Schweißperlen tropften ihm von der Stirn. Seine blut- und schweißüberströmten Wangen brannten. Er fuhr mit dem Handrücken über sein Gesicht.
»Wer sind diese Typen?« fragte er.
»Niemand, den wir kennenlernen möchten, Chef.«
Sie tauchten im Dschungel unter.
Die Maschinengewehrschützen beschossen den Regenwald an der Stelle, wo sie das flüchtende Paar zum letzten Mal gesichtet hatten. Doch Indy und Bernabe versteckten sich hinter einem Mahagonibaum, gute zehn Meter weiter, und hörten, wie die Kugeln wirkungslos durch das Dach aus Blättern über ihre Köpfe zischten.
Am Gründonnerstag gelangten die beiden nach San Pablo, das ein gutes Stück hinter der guatemaltekischen Grenze lag. Indy konnte sich nicht entsinnen, wann er jemals so erschöpft oder so dreckig gewesen war. Er hatte den Eindruck, daß seine Kleider an seinem Körper festklebten. Er sehnte sich nach einer ausgiebigen Dusche, nach einer Rasur und einer warmen Mahlzeit. Als sie sich der Stadt näherten, legte Indy eine Pause ein, veränderte die Position seines Rucksacks und kratzte einen Mückenstich auf seiner rechten Hüfte, ehe er sich auf wackeligen Beinen weiterschleppte.
Bernabe behielt dasselbe Tempo bei, das er eingeschlagen hatte, gleich nachdem sie San Pablo den Rücken gekehrt hatten. Die Indios in dieser Gegend waren überall auf der Welt für ihre Ausdauer berühmt. Das Marschtempo seines Führers hatte Indy in regelmäßigen Abständen dazu veranlaßt, Bernabes Zeit zu nehmen. Der Mann lief barfuß. Nach mehreren Messungen entdeckte er, daß Bernabes Tempo sich nur minimal veränderte. Diese Tatsache war ihm zu Anfang ihrer gemeinsamen Reise bemerkenswert erschie -nen, hatte ihm nach der Hälfte seltsamerweise ein beruhigendes Gefühl vermittelt, war ihm aber während der letzten Tage zusehends zum Ärgernis geworden. Völlig unbegründet verspürte er inzwischen den Wunsch, daß sein Führer rennen, langsamer werden oder humpeln sollte.
»Los«, drängte Indy ihn. »Wir sind fast da. Laß uns laufen.«
Bernabe lächelte und schüttelte den Kopf.
»Warum denn nicht?« fragte Indy.
»Sie erinnern mich an den Hasen in dieser alten Geschichte, Chef. Manchmal ist es ganz gut, der Hase zu sein, aber manchmal ist es gut, sich wie die Schildkröte zu verhalten. Wir beide werden auf jeden Fall unser Ziel erreichen, nicht wahr?«
»Nun, laut dem Märchen gewinnt die Schildkröte das Rennen.«
»Was Sie nicht sagen«, rief Bernabe und gab sich ange-sichts des Ergebnisses überrascht. »Das darf ich in Zukunft nicht vergessen.«
Schließlich erreichten sie den Stadtrand von San Pablo und marschierten durch die dunklen und gewundenen Straßen. Das Dörfchen bestand aus einer Handvoll Stuckhäuser, die sich um eine altersschwache Kirche aus der Kolonialzeit scharten. Elektrizität gab es in dem Städtchen nicht, aber die Plaza wurde von Papierlaternen und Fackeln erleuchtet. Die Luft war voller Musik und dem Gelächter der Betrunkenen.
Als sie den Platz überquerten, behinderte eine Prozession ihr Fortkommen. Ein paar Teilnehmer hatten sich als römische Soldaten verkleidet, die einen Jesus - ebenfalls ein Mann aus dem Dorf - zu einem Holzkäfig in der Mitte des Platzes führten. Andere trugen Fellmützen und dunkle Jakken und schwangen Bullenpeitschen, die sie über die Köpfe der Zuschauer zischen ließen.
»Die mit den Peitschen, das sind die, die Judas Rolle einnehmen«, klärte Bernabe ihn auf. »Sie sind Mitglieder einer Bruderschaft. Die Dorfbewohner geben ihnen Whisky und ein bißchen Geld, in der Hoffnung, daß im kommenden Jahr die Geschäfte gut laufen.«