»Manchmal frage ich mich, ob dieses Sammeln toter Gegenstände aus vergangenen Epochen überhaupt einen Sinn macht«, zweifelte Indy laut. »Auf der Welt leiden so viele Menschen Hunger. Ich bezweifle, daß dieser Frau dort drüben, die Äpfel verkauft, etwas daran liegt, was vor tausend Jahren - oder gestern - passiert ist.«
»Wann immer du philosophisch wirst, fange ich an, mir Sorgen um dich zu machen«, sagte Brody. »Jeder von uns hat seine Rolle zu spielen. Es ist wahr, daß viele von uns im Augenblick zu sehr damit beschäftigt sind, ihre Mägen zu füllen. Aber du, mein Junge - die Rolle, die du mit den toten Gegenständen aus vergangenen Epochen spielst, hilft uns, unsere Seelen zu nähren. Und wer weiß? Möglicherweise stößt du eines Tages auf ein altes Geheimnis, das uns sogar hilft, unsere Mägen vollzukriegen.«
Marcus beugte sich vor.
»Je mehr wir über die Vergangenheit lernen, Indy, desto geringer die Chance, daß wir die gleichen Fehler noch mal machen.«
Der Regen ließ nach. Nur noch selten fiel ein dicker Tropfen in die Pfützen auf der Straße. Indy streckte die Hand aus und fing ein paar Tropfen auf, die vom Rand der grünweiß-gestreiften Markise rannen. Einen Augenblick hielt er das Regenwasser in der Hand, schloß sie dann und ließ es durch die Finger laufen.
»Was ist nur in dich gefahren, Indy?« fragte Marcus. »Bisher habe ich dich noch nie so niedergeschlagen gesehen. Soll ich dir die Liste deiner Verdienste vortragen?«
»Nein, Marcus«, sagte er. »Ich bin in Ordnung, ehrlich.«
»Hat sich auf deiner Expedition etwas zugetragen, von dem du mir nichts erzählt hast?« fragte Marcus nach. »Eine Angelegenheit des Herzens? Du bist einem wunderschönen Indio-Mädchen begegnet, das -«
»Nichts in der Art«, sagte Indy. Seine Miene klärte sich auf. »Die einzige Frau, der ich auf meiner Reise begegnet bin, war aus Quarz und ein paar hundert Jahre zu alt für mich.« Er trank seinen Kaffee aus und blickte zum Himmel auf. »Es war schön, dich zu sehen, Marcus, aber jetzt muß ich mich schleunigst auf den Weg machen.«
»Der Kaffee geht auf meine Rechnung«, meinte Brody.
»Danke«, erwiderte Indy. »Für alles.«
»Überleg dir doch, nach New York zu kommen, zur Eröffnung der neuen Ausstellung über Zentralamerika«, bat Brody ihn. »Würde dir guttun. Es gibt eine Menge zu sehen, und wie du weißt, bist du für die besten Stücke verantwortlich. Darüber hinaus wäre es eine gute Gelegenheit, dich dem Explorers' Club vorzustellen.«
»Nein, danke. Ich habe meine Koffer noch nicht mal ausgepackt. Ich bin gerade aus dem Dschungel zurück, und es drängt mich nicht, mich in den nächsten zu stürzen.«
Indy setzte den Hut auf und klemmte die Aktentasche unter den Arm. Die beiden Männer gaben sich die Hand.
»Ich werde mich melden«, versprach Brody. Nachdem Indy das Cafe verlassen hatte, sagte Brody zu sich selbst: »Mein Junge, ich hoffe, sie ist es wert gewesen.«
An der Ecke blieb Indy stehen, um einen Apfel zu kaufen, den er mit einem Dollarschein bezahlte. Als die Frau sich beschwerte, daß sie nicht über die fünfundneunzig Cents verfüge, die sie ihm rausgeben mußte, bat er sie, das Geld zu behalten und sich davon eine warme Mahlzeit zu kaufen.
Den Apfel verstaute er in der Aktentasche. Ein nagelneuer V-8 Ford fuhr an ihm vorbei. Die Reifen sangen auf dem nassen Asphalt. Der Wagen war schwarz, und die beiden Männer auf den Vordersitzen trugen schwarze Anzüge und Krawatten. Ein dritter Mann - er saß auf der Rückbank -hatte eine Uniform an. Das Nummernschild an der hinteren Stoßstange verriet Indy, daß das Fahrzeug Regierungseigentum war.
Indy ging zum Fitz Randolph Gateway hinüber. Weil das schmiedeeiserne Tor nur zu besonderen Gelegenheiten aufgeschlossen wurde, quetschte Indy sich durch einen schmaleren Eingang nebenan, der normalerweise von Studenten genutzt wurde. Gerade als er den Campus zur Hälfte durchquert hatte und an der großen Kanone vorbeikam, die aus dem Bürgerkrieg stammte, donnerte es am grauen Himmel, und es begann erneut aus allen Wolken zu schütten. Bis auf die Knochen durchnäßt erreichte er die McCormick Hall.
»Wieder völlig naß, hm, Jones?«
»Gruber«, sagte Indy.
Harold Gruber- ein pfeiferauchender Wissenschaftler, der sich aufs Mittelalter spezialisiert hatte und eine Leidenschaft für Macchiavelli pflegte - vertrat gerade den Leiter der Abteilung für Kunst und Architektur an der Princeton University.
Gruber nahm die Meerschaumpfeife aus dem Mund.
»Hören Sie, Jones«, sagte er und zeigte mit dem Pfeifenstiel auf Indy. »Sie sollten sich besser einen Regenschirm zulegen. Es gibt keine Entschuldigung dafür, unvorbereitet zu sein.«
»Danke, Harry«, sagte Indy.
»Harold«, sagte Gruber.
Auf dem Weg nach oben quietschten Indys Schuhe auf den Treppenstufen. Gruber und seine schwelende Pfeife folgten ihm.
»Ich bin sehr froh, daß ich Ihnen über den Weg gelaufen bin«, murmelte Gruber. Die Pfeife hing wieder im Mundwinkel. »Es sind Fragen aufgetaucht, wissen Sie, und als stellvertretender Leiter halte ich es für meine Pflicht, eben diesen Fragen nachzugehen.«
»Fragen?« rief Indy über seine Schulter.
»Ähm, ja«, sagte Gruber. Sie hatten mittlerweile das obere Stockwerk erreicht, und Indys Schuhe hinterließen feuchte Abdrücke auf dem Boden, als er auf sein Büro am Ende des Flurs zuhielt. »Bei uns ist eine Beschwerde vom Britischen Konsulat eingegangen hinsichtlich Ihrer Aktiv i-täten in Britisch Honduras. Wie es scheint, haben sie den Eindruck gewonnen, daß Sie gegen ihr Antiquitätengesetz verstoßen haben, indem Sie quasi durch die Hintertür, in diesem Fall über Guatemala, bestimmte Orte besucht haben.«
»Hintertür?« fragte Indy.
Er schloß die Tür mit der Kennzeichnung 404 E auf und trat ein. Um einen Stapel Nachrichten aufzuheben, die sich hinter der Tür angesammelt hatten, mußte er sich bücken.
»Nun?« fragte Gruber.
Eine zornige Rauchsäule stieg aus seiner Meerschaumpfeife auf. Die Tabakmischung roch wie altes, feuchtes Stroh und brannte Indy in den Augen.
»An Hintertüren kann ich mich nicht erinnern.« Indy stand auf und blätterte beim Sprechen die Nachrichten durch. »Aber ich hatte schon immer Probleme, Karten zu lesen. Ich werde meinem guatemaltekischen Führer schreiben und ihn fragen, wo genau wir gewesen sind. Es wird selbstverständlich ein paar Wochen dauern, bis wir Antwort erhalten, Harry
Damit machte er die Tür zu und schloß sie ab.
»Harold«, rief Gruber von der anderen Seite. »Ich ziehe Harold vor.«
Indy hängte seinen tropfenden Hut und Mantel an einen Kleiderständer aus Holz, der in der Ecke seines winzigen Büros untergebracht war. Die Aktentasche landete auf dem Tisch. Das Büro war seit Beginn der Osterferien verschlossen gewesen und roch nun wie ein Sarkophag. Indy entriegelte das Fenster und schob es ein paar Zentimeter hoch.
Der durchs Fenster dringende Wind verschob die Papiere auf dem Schreibtisch. Indy setzte sich auf den Drehstuhl, entledigte sich seiner Schuhe und drapierte sie mit der Oberseite nach unten auf den zischenden Dampfheizkörper unter dem Fenster.
Sein Büro war vollgestopft mit Büchern, Fachzeitschriften und einem ungewöhnlichen Durcheinander von Artefakten. Ein menschlicher Schädel aus dem Tempel von Angkor Wat grinste vom obersten Brett eines überfüllten Regals auf ihn hinab. Ein Gipsabdruck der irn griechischen Rosetta gefundenen Tafel nahm eine Ecke hinter seinem Schreibtisch ein, während ein grimmig dreinblickender Holzfetisch aus Polynesien in der anderen Ecke Wache hielt. Überall standen Schachteln mit Bogen und Pfeilspitzen, mit Tonscherben und den unterschiedlichsten Fossilien herum. Auf dem Schreibtisch waren ein Telefon, ein Tintenfaß, ein Stapel unbenoteter Hausarbeiten und eine Zeremonienschale aus dem Grab eines ägyptischen Königs zu finden.