Die Agenten schwiegen.
Major Manly streckte seine Handflächen nach oben.
»Es tut mir leid, Dr. Jones«, fing er an. »Hierbei handelt es sich um eine FBI-Operation, wenigstens solange wir uns innerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten befinden. Beim Militärischen Geheimdienst handeln wir auf einer wesentlich globaleren Ebene.«
Bieber runzelte die Stirn.
»Hören sie, Dr. Jones«, sagte er. »Seien Sie vernünftig. Sie gewinnen nichts, wenn Sie sich schwierig geben. Sie haben den Ruf, ein guter Lehrer zu sein - so berichten es jedenfalls die Studenten -, und es wäre doch dumm, wenn etwas geschähe, das Ihrem Ruf schadete.«
»Ist das als Drohung gemeint?« fragte Indy.
»Wir sprechen keine Drohungen aus, Dr. Jones«, entgegnete Bieber.
»Meine Herren, es behagt mir nicht, wenn man mich unter Druck setzt«, gestand Indy. »Falls Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muß zum Unterricht. Sie finden sicherlich nach draußen.«
Bieber ließ seinen Zigarettenstummel fallen und trat ihn mit dem Absatz aus. Yartz grinste, holte einen Stapel Karteikarten aus seiner Jacke und legte sie auf Indys Schreibtisch.
»Die hier haben Sie beim Überqueren der Straße verloren«, sagte er.
Die FBI-Agenten verließen das Büro.
Manly blieb zurück.
»Von einem Gelehrten zum anderen«, sagte er, »diese Sache ist sehr wichtig. Ich möchte mich für die dreiste Vorgehensweise meiner Kollegen entschuldigen. Ehrlich gesagt, Dr. Jones, wir könnten Ihre Unterstützung gut gebrauchen. Wir verfügen nicht über eine einzige Spur, die irgend etwas Substantielles ergeben hat. Denken Sie wenigstens noch mal darüber nach.«
Indy sagte nichts.
»Hier ist meine Karte.« Als Indy keinen Finger rührte, sie entgegenzunehmen, legte er sie auf den Tisch. »Sie können mich zu jeder Tag- und Nachtzeit unter dieser Nummer erreichen.«
Manly schloß die Tür hinter sich.
Mit den Notizen in der Hand blieb Indy vor dem Unterrichtsraum stehen. Seine fünfzehn Studenten rissen Witze oder unterhielten sich über Nebensächlichkeiten. Offenbar freuten sie sich über die zusätzlichen Minuten der Freiheit. Lächelnd machte er die Tür auf.
Auf einen Schlag wurde es still.
»Meine Herren«, setzte Indy an, »ich möchte mich für die Verspätung entschuldigen. Ich hoffe, Sie alle hatten einen angenehmen - wenn auch zu kurzen - Urlaub. Lassen Sie uns den Faden bei unserer Exploration der Beziehung zwischen Mythos und Entdeckung wieder aufnehmen.«
Indy trat an die Tafel.
»Die Geschichte der Archäologie ist die Geschichte unseres schwer zu durchschauenden Wissensdurstes bezüglich der Vergangenheit. Jeder von uns spaziert jeden Tag mit dem kulturellen Mobiliar unserer längst verstorbenen Vorfahren umher, das sich in die hintersten Winkel unseres Unterbewußtseins eingegraben hat.
Für die meisten von uns bedeutet das nicht viel mehr als eine Fußnote des Alltagslebens. Selbst wenn wir nicht abergläubisch sind, fällt es doch zum Beispiel den meisten von uns schwer, den Weg einer schwarzen Katze zu kreuzen, ohne von leichtem Zweifel befallen zu werden. Diesen Rest Aberglaube haben wir den Babyloniern zu verdanken. Aber es gibt noch andere, faszinierende Dinge, die in den hintersten Winkeln unserer Köpfe verweilen: Geschichten, Fabeln, Mythen.«
Indy kritzelte den Namen SCHLIEMAN an die Tafel.
»Für ein paar Personen werden diese Mythen manchmal zu der treibenden Kraft ihrer Leidenschaft, und ihre Lebensaufgabe ist es dann, die Geheimnisse zu enträtseln, die sie umgeben. Es ist wirklich überraschend zu sehen, wie viele Entdeckungen in der Geschichte der Archäologie wir einigen wenigen inspirierten Menschen zu verdanken haben, die als Rüstzeug nur Glauben und harte Arbeit ins Feld führten.«
Vorn meldete sich jemand mit Handzeichen.
»Ja, Mr. Hudson?«
»Ähm, entschuldigen Sie, Dr. Jones«, sagte der Viertse-mestler und drehte dabei nervös den Bleistift in den Händen. »Ich glaube, Schliemann wird mit zwei N geschrieben - das heißt, wenn ich mich nicht irre.«
»Ganz richtig«, sagte Indy und korrigierte seinen Fehler. »Danke. Und bitte melden Sie sich, wann immer Sie das Bedürfnis verspüren. Sie brauchen nicht zu zögern.«
Hudson nickte.
»Nun, an Weihnachten 1829 schenkte ein Vater seinem siebenjährigen Sohn einen Bildband, in dem die Geschichte der Welt aufbereitet war. In diesem Buch gab es auch eine Zeichnung des brennenden Troja. Das Bild, auf dem der schwere Stadtwall zu sehen war und das berühmte Scaeen Tor, entfachte die Imagination des Jungen. Konzentriert lauschte er, wie sein Vater ihm die Geschichte des trojanischen Krieges erzählte, und als er erfuhr, daß die Stadt nicht mehr existierte, daß keine Menschenseele wußte, wo die großartige Zitadelle gestanden hat, war er mehr als erstaunt. Der Junge beschloß, daß er - wenn er groß war -Troja suchen und den Schatz finden wollte, der dort vergraben war.
Der Junge - Heinrich Schliemann - wurde erwachsen. Im Alter von vierzehn Jahren endete seine institutionalisierte Schulausbildung, aber er studierte allein weiter. Während er eine Lehre als Lebensmittelkaufmann absolvierte, als Kabinenjunge und als Buchhalter arbeitete, gelang es ihm, acht Sprachen zu erlernen. Schließlich wurde er ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, doch seine Troja-Besessenheit legte sich nie.
Endlich, im Alter von sechsundvierzig Jahren, auf der Höhe des Erfolges, zog er sich aus dem Geschäftsleben zurück, um sich seiner selbstgestellten Aufgabe zu widmen. Als Führer diente ihm Homers Erzählung über den trojanischen Krieg, die von den meisten Wissenschaftlern als Märchen abgetan wurde. Aber Schliemann zog Pickel und Schaufel der Meinung anderer vor. 1873, nach jahrelangen Grabungen und just an dem Tag, an dem er beschlossen hatte, die erfolglose Arbeit hinzuschmeißen, stieß er auf die Schatztruhe eines Königs.
Weitere aufsehenerregende Funde sollten folgen«, erzählte Indy. »Zu jener Zeit ging man davon aus, daß alle Museen auf der Welt zusammengenommen etwa ein Fünftel an Goldartefakten beherbergten, im Verhältnis zu dem, was Schliemann in Troja barg. Nun, wer kann für uns Schliemanns Fund in einen archäologischen Kontext stellen? Mr. York.«
»Das Troja, das Schliemann gefunden hat, war wahrscheinlich nicht das Troja des homerischen Mythos«, gab ein junger Rotschopf selbstsicher zum besten. »Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erkannte Wilhelm Dörpfeld als erster, daß es an jenem Ort neun Städte gab, eine auf den Ruinen der vorherigen erbaut.«
Eine andere Hand fuhr hoch.
»Hudson.«
»Letztes Jahr«, verkündete der scheue Student, »rief Carl Biegen - von der Universität von Cincinnati, denke ich -eine neue Expedition ins Leben. Er geht davon aus, daß eine der neun Städte an jenem Ort das echte Troja ist.«
»Sehr gut«, lobte Indy. »Also, obwohl Schliemann einige Fehler unterlaufen sind - und ihn damalige Experten als schwierigen Außenseiter ansahen -, hat er eine dreitausend Jahre alte Zivilisation entdeckt, von der die meisten Wissenschaftler dachten, daß sie nur ein Mythos wäre. Der Traum, geboren im Herzen eines siebenjährigen Jungen, hat zu diesem sensationellen Ergebnis geführt. Bevor wir uns nun aber mit der Stratifikation in Troja beschäftigen, gibt es bis dahin noch Fragen oder Kommentare?«
Ein Student in der hintersten Reihe hob den Finger.
»Mr. Griffith?«
»Wo«, fragte der junge Mann, »sind Ihre Schuhe?«
Miss Penelope Angstrom war fünfundsechzig Jahre alt und hatte sich der Abteilung für Kunst und Architektur an der Princeton Universität verschrieben, wo sie seit neunundzwanzig Jahren arbeitete. Obwohl sie ziemlich sauer reagierte, wenn man die Meinung äußerte, sie sei mit der Abteilung verheiratet, zerbrach sie sich insgeheim den Kopf darüber, ob sie langsam eine alte Jungfer wurde. Sie lebte allein in einem Zwei-Zimmer-Apartment über einem Tante-Emma-Laden in der Witherspoon Street, von wo aus man einen herrlichen Ausblick auf den Palmer Square hatte. Einsam fühlte sie sich selten, denn sie hatte ihre Bücher und ihre Musik, die ihr Gesellschaft leisteten. Und falls sie sich mal einsam fühlte, las sie Gedichte oder spielte leise Geige bis tief in die Nacht, oder, falls sie sich besonders mutig vorkam, verschlang sie einen Abenteuerroman vom Zeitungsstand an der Ecke.