Ich verabschiedete mich, tätschelte dem schweigenden Jungen den Kopf und gab ihm einen Dollarschein. »Eine kleine Anerkennung für dich, junger Mann, dass du so gut und hart für deinen lieben Vater arbeitest.«
»Vielen Dank, Sir«, piepste der Junge.
»Einen schönen Tag noch!«, sagte Onderdonk, und dann ging ich meines Weges.
Es hatte mich aufgemuntert, dass die Arbeiterklasse trotz der schlechten Wirtschaftslage über die Runden kam. Der Mann war bewundernswert. Unfairerweise von den Massen vorhandener Fische abgeschirmt, hatte er das Hindernis überwunden und war auf andere Weise erfolgreich geworden.
Dann schlenderte ich die Straße zurück, durch meinen Kopf schwirrten Gedanken, die meine Stimmung verbesserten. Natürlich das gute Essen und das ebenso gute Wetter; das Wissen, dass ich am nächsten Tag ein seltenes Foto von H. P. Lovecraft besitzen würde; die Wahrscheinlichkeit, dass mich am Abend im Wraxall’s ein weiteres gutes Mahl erwartete (denn frische Meeresfrüchte waren – mehr noch als Schweinefleisch – ein großer Genuss für mich) sowie die simple Genugtuung, dass ich auf Wegen wandelte, die Lovecraft ebenfalls beschritten hatte.
Und da war noch etwas anderes, das meine freudige Erregung steigerte.
Mary.
Mary Simpson, grübelte ich. So wunderschön. So gütig und aufrichtig und fleißig. Sie wirkte auf mich einzigartig, selbst wenn sie in ihrer Vergangenheit schlechte Zeiten durchlebt hatte. Schwanger, ohne gegenwärtigen Ehemann, und doch arbeitete sie, um ihre Pflichten zu erfüllen. Ich gestand mir ein, dass ich dabei war, ihr in platonischer Liebe zu verfallen, und platonisch würde sie bleiben müssen, da ich nichts Weitergehendes anstreben konnte, sosehr ich es mir auch wünschen mochte.
Und ich würde sie am nächsten Tag zum Mittagessen treffen.
Ich drehte mich um, und mein Herz pochte wie wild in meiner Brust. Die Überraschung hatte mich auf höchst unangenehme Weise aus meinen Gedanken gerissen.
Aus dem Wald im Westen hatte ich ganz sicher ein Geräusch gehört.
Ich war auf eine Auseinandersetzung überhaupt nicht vorbereitet, aber nun war ich mir sicher, dass man mir nachstellte, und das wollte ich sofort unterbinden.
Ich starrte intensiv in den Wald, dann glaubte ich, einen Zweig zerbrechen zu hören. »Ich höre Sie!«, rief ich und zögerte nicht, zwischen die Bäume zu treten. »Zeigen Sie sich wie ein Mann!«
Weitere Zweige zerbrachen, als mein Verfolger tiefer in den Wald hineinlief. Ich war mir nicht sicher, warum, aber ich setzte ihm nach.
Fünfzig Meter tiefer im Wald verriet ein einsamer Sonnenstrahl die Identität des Beobachters.
Nur eine kurze Sekunde lang erspähte ich die Gestalt, zwar nicht das Gesicht, aber immerhin die Kleidung: den langen, schmutzigen Regenmantel mit Kapuze.
»Also wirklich, Mr. Zalen, das ist keine Art, einen zahlenden Kunden zu behandeln!«, brüllte meine Stimme durch die Bäume. »Falls Sie mich berauben wollen, kann ich Ihnen versichern, dass ich gut bewaffnet bin!«
Das war korrekt, denn ich hatte die kleine halb automatische Pistole, die ich bei der Colt Patent Firearms Company in Hartford erworben hatte, bereits aus der Hosentasche geholt. Es war ein Modell 1903, von dem ich gelesen hatte, dass der berüchtigte Bankräuber John Dillinger sie an dem Tag, an dem er niedergeschossen wurde, bei sich gehabt hatte. Ich war kein besonderer Schütze, aber mit einem vollen Magazin war ich gut genug.
Zalen war stehen geblieben und hatte mich offensichtlich gehört. Auf einmal rannte er los und verschwand erneut zwischen den Bäumen.
»Ich bin sehr enttäuscht, Mr. Zalen!«, rief ich ihm hinterher. »Aber, Dieb oder nicht, vergessen Sie unsere Verabredung für morgen nicht.«
Die dicht stehenden Bäume verschluckten meine Stimme. Ein ruhiger, zurückhaltender Mann wie ich hätte durch eine derartige Beinahe-Konfrontation eigentlich erschüttert sein sollen, aber ich fühlte nichts dergleichen. Ich war ganz ruhig, zuversichtlich und unbeeindruckt, und ich hatte auch nicht die Absicht, Zalen am folgenden Tag nicht aufzusuchen. Er hatte etwas, das ich haben wollte, und ich würde wie beabsichtigt dafür bezahlen. Da er jetzt wusste, dass ich bewaffnet war, würde er von feindseligen Handlungen gewiss absehen.
Als ich mich umdrehte, um wieder zur Straße zurückzugehen, sah ich das Haus.
Es musste Marys Haus sein.
Nur ganz schwach drang das Sonnenlicht durch den dichten Schirm aus Blättern und Ästen. Der in dieser Region nur spärlich fallende Regen hatte bewirkt, dass der Waldboden trocken wie Zunder war. Das, was ich da sah, tat ich anfänglich als Hügel ab, doch bei konzentrierterem Hinschauen erkannte ich kleine, einfach verglaste Fenster inmitten eines riesigen Efeuteppichs. Schließlich entdeckte ich Ecken, die weniger überwuchert waren, sowie ein Schieferdach und einen Kamin aus alten fleckigen Ziegelsteinen, die noch aus der Zeit vor der Revolution stammten. Hinter dem eckigen und mit Efeu überwucherten Haus befand sich jedoch eine sonnenüberflutete Lichtung, auf der eine einsame, winzige Gestalt umherzutollen schien. Als ich genauer hinblickte, sah ich, dass es sich um einen Jungen handelte, der Pfeile mit einem einfachen, mehr als wahrscheinlich selbst angefertigten Bogen abschoss. Die Pfeile waren jene für Kinder hergestellten mit Gummisaugnapf an der Spitze, und der Junge schoss damit auf einen alten, aufgestellten Fensterrahmen, in dem sich noch das Glas befand.
Das war also eines von Marys älteren Kindern. Seltsam bloß, dass nur eines im Freien zu sehen war. So nah beim Haus hätte ich erwartet, all ihre acht Kinder sehen oder zumindest hören zu können. Sie hat angedeutet, dass ihr Stiefvater auf die jüngeren aufpasst, fiel mir wieder ein. Dennoch wirkte das Haus merkwürdig leise.
Augenblicklich kam ich mir wie ein Eindringling vor. Nur weil ich Zalen verfolgt hatte, war ich überhaupt so weit in den Wald hineingelaufen. Dennoch, trotz des Drangs zu gehen, blieb ich stehen und starrte das überwucherte Haus an. Der Impuls, in ein Fenster zu sehen, war sehr stark, aber ich riss mich zusammen. Nicht nur wäre dies die Tat eines Flegels – der ich nicht war –, sondern es wäre sogar illegal. Ich habe nicht das Recht, mich hier aufzuhalten, und sollte gehen. Aber ich wunderte mich doch über die Motive meines Unterbewusstseins – oder meines Ichs, wie Freud es nannte.
War es Mary, die mein Ich zu erspähen hoffte?
Als ich mich umdrehte, um zu gehen, hätte ich beinahe laut aufgeschrien.
Da, unmittelbar vor mir stand der Junge.
Ich erholte mich rasch von dem Schreck. »Hallo, junger Mann. Mein Name ist Foster Morley.«
»Hallo«, erwiderte er errötend. Er war dünn, hatte strahlende Augen und sah aus wie so viele Kinder: neugierig und unschuldig. Ich schätzte ihn auf etwa zehn – das war bei Heranwachsenden immer schwer zu sagen –, und er trug saubere, wenngleich abgenutzte Kleidung. In einer Hand hielt er seinen einfachen Bogen und in der anderen einen Köcher mit den Saugnapfpfeilen. Nach einem Moment fügte er hinzu: »Mein Name ist Walter, Sir.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, Walter.« Schüchtern schüttelte er mir die Hand. »Lautet dein Nachname zufälligerweise Simpson?«
Er wirkte freudig überrascht. »Ja, Sir.«
»Das ist aber ein Zufall! Ich bin ein Freund deiner Mutter. Heute Morgen haben wir uns erst bei Mr. Baxter unterhalten. Du kannst stolz darauf sein, eine so hart arbeitende Mutter zu haben.«
Er schien sich über diese Information zu wundern. »Ja, Sir, ich bin sehr stolz auf sie, ebenso wie Opa.«
Sein »Opa« konnte nur Marys Stiefvater sein.
»Er schläft jetzt«, fügte er hinzu. »Er ist … alt.«
»Ja, und den Älteren muss man immer Respekt erweisen.« Ich sah mir seinen einfachen, aus Zweigen zusammengebauten Bogen an. »Du bist ja ein richtiger Bogenschütze, Walter. Übung macht den Meister.« Dann zeigte ich auf das Fenster, das er als Ziel benutzte und an dem schon mehrere Pfeile hingen. »Und bei deinen beeindruckenden Fähigkeiten könntest du einmal im Olympia-Team der Bogenschützen stehen.«