Nur der Liebe.
Eine monströse Welt ist das, die so etwas zulässt, fand ich. Dass die Armen und die Verzweifelten für die niedersten Instinkte versklavt werden. Ich holte eine kleine, zusammenklappbare Schere aus meiner Reisetasche und begann, das Foto in kleine Stücke zu schneiden. Ich arbeitete mich vom Rand nach innen vor, bis nur noch das winzige Quadrat mit Marys wunderschönem Gesicht übrig war. Die Fetzen warf ich weg; das Quadrat jedoch versteckte ich in einem Fach in meiner Brieftasche.
Dann ging ich die Treppe hinunter; als ich mich dem Erdgeschoss näherte, öffnete sich die Tür zum Atrium, bevor ich danach greifen konnte, und auf einmal stand ich vor einer schlanken, attraktiven jungen Frau in einem schönen, aber einfachen Kleid, wie es viele Frauen in den wärmeren Monaten bevorzugten. Sie war auf dem Weg nach oben, während ich nach unten ging. Sie schenkte mir ein sanftmütiges Lächeln und nickte, als sie näher kam.
»Guten Tag.«
»Hallo«, erwiderte sie, als ob sie schüchtern wäre. Als sie mich passierte, erschrak ich bis ins Innerste; ich hatte so lange gebraucht hatte, um die schlanke Gestalt und das obsidianschwarze Haar zu erkennen.
Monica, war ich mir sicher. Eines der Mädchen vom Pier …
Augenscheinlich hatte sie mich nicht als den Eindringling erkannt, den sie nur wenige Stunden zuvor so leidenschaftlich angefleht hatte.
Sie wird doch nicht hier wohnen … Vielleicht war sie hier als Zimmermädchen angestellt. Aber, ehrlich, warum sollte ich mir Sorgen machen?
Ich hörte ihre leisen Schritte, als sie die Treppe hinaufstieg, dann an mir vorbei ins Atrium ging, doch als die Tür langsam hinter mir zufiel – ich weiß nicht genau, warum ich das überhaupt bemerkt habe –, schienen die Schritte sehr schnell aufzuhören. Ich bin mir auch nicht sicher, was mich zu meiner nächsten Tag bewogen hat.
Ich ging zurück ins Treppenhaus und blickte nach oben.
Von Monica war nichts mehr zu sehen, aber dann …
Klick!
Ich registrierte das Geräusch schnell genug, um zu der Tür im ersten Stock hinaufzusehen. Diese fiel vor meinen Augen ins Schloss.
Der erste Stock, dachte ich. Die VERSCHLOSSENE Tür. Monica hatte aus welchem Grund auch immer eindeutig Zugang zu dieser Etage.
Mit gerunzelter Stirn kehrte ich ins Atrium zurück. Allerdings war mir nicht ganz klar, warum mir das zu schaffen machte.
Der freundliche Page und der Rezeptionist grüßten mich, als ich vorbeiging. Bei Letzterem angekommen, musste ich einfach nachfragen: »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir, ich bin neugierig, aus welchem Grund der erste Stock verschlossen ist.«
Es kann Einbildung von meiner Seite gewesen sein, aber sein übliches Lächeln und seine Gutmütigkeit schienen für einen Augenblick abzureißen. »Aber Sie wohnen doch im vierten Stock, Mr. Morley. Warum sollten Sie …«
»Natürlich«, versuchte ich abweisend zu klingen. »Ich hätte vorausschicken sollen, dass ich versehentlich den ersten Stock für das Erdgeschoss gehalten habe.« Ich möchte dies nicht direkt als Lüge bezeichnen, sondern eher als bescheidene Abweichung von der Wahrheit.
Doch der gutmütige Gesichtsausdruck des Mannes war bereits zurückgekehrt. »Ah, nun ja, diese Etage ist bis auf Weiteres gesperrt. Renovierung. Die Arbeiten sollten nicht länger als einen Monat dauern.«
»Verstehe. Vielen Dank, dass Sie meine ziemlich sinnlose Neugier befriedigt haben. Ich hätte es mir denken können.« Dann wünschte ich ihm einen guten Abend.
Nach Überqueren der Straße erwartete mich im Wraxall’s ein appetitanregender Duft. Das Restaurant sah makellos aus und war mit einfachen Stühlen und Tischen in einem nicht wirklich überraschenden nautischen Gesamtbild eingerichtet. An den Wänden hingen Fotos alter Fischer in Regenjacke, die stolz beachtliche Fische in die Luft hielten, ein Steuerrad, ein Schiffsfenster und mehrere Fischnetze mit Schwimmern verzierten die Ecken. Ich hielt es für möglich, dass dieses Restaurant vor dem Wiederaufbau die düstere Cafeteria gewesen war, in der Robert Olmstead widerstrebend und unter den sonderbaren Blicken heruntergekommener Kerle gegessen hatte.
Messinglaternen, originellerweise mit Kerzen im Innern, verzierten die Holztische. Doch meine Augen verengten sich, als ich bemerkte, dass Mr. Garret nirgends zu sehen war. Nur ein Tisch war besetzt, von einem Paar, das sich leise unterhielt.
Als die Kellnerin mit der Speisekarte erschien, war sie sprachlos.
Ich hätte mich nicht mehr freuen können. Es war Mary …
»Oh, Mary, was für eine angenehme Überraschung.« Ich versuchte, meine Freude in Zaum zu halten.
»Foster!« Sie lächelte mich an und drückte mir eine Hand gegen den Rücken, um mich in die Ecke zu schieben. »Nehmen Sie die Fensternische. Von dort aus kann man wunderbar den Sonnenuntergang beobachten. Ich bin so froh, dass Sie kommen konnten.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier ebenfalls arbeiten.«
»Oh, ich springe nur manchmal ein. Aber die Bezahlung ist nicht übel, nun, da unser wunderbarer Präsident das Mindestlohngesetz unterschrieben hat.«
Ich hatte davon gelesen: ziemlich schäbige vierzig Cent pro Stunde. Aber ich musste mir ins Gedächtnis rufen, dass Glück – und die harte Arbeit meines Vaters, nicht meine eigene – mir einen wesentlich wohlhabenderen Status verschafft hatten als den der meisten anderen.
Sie füllte mein Wasserglas, während ich mich setzte. »Haben Sie einen schönen, ruhigen Ort gefunden, um Ihr Buch zu lesen?«
»Oh, Schatten über Innsmouth …« Ich hatte beinahe vergessen, dass dies mein ursprüngliches Ziel gewesen war. »Eigentlich war ich so damit beschäftigt, die Stadt zu durchstreifen, dass ich gar nicht dazu gekommen bin. Morgen aber. Nach unserer Verabredung zum Mittagessen, die, wie ich von ganzem Herzen hoffe, noch immer steht.«
Auf einmal seufzte sie und ließ dramatisch den Kopf hängen. »Machen Sie Witze? Ich kann es kaum erwarten. Das wird mein erster freier Nachmittag seit Wochen sein.«
Diese Worte beunruhigten mich. »Mary, es gibt nichts Bewundernswerteres als einen schwer arbeitenden Menschen«, dann beugte ich mich näher an sie heran, »aber ich wünschte, Sie müssten sich nicht so plagen, wo Sie doch ein Kind erwarten.«
»Sie sind so süß, Foster«, erwiderte sie grinsend und drückte meine Hand. »Aber harte Arbeit ist das, worauf Amerika aufgebaut wurde, oder nicht?«
»Ja, das ist wahr«, entgegnete ich leicht schuldbewusst.
»Außerdem sagt Dr. Anstruther, es sei in Ordnung, bis zum achten Monat zu arbeiten, solange ich mich nicht zu sehr anstrenge.«
Ich war sicher, dass dies stimmte, trotzdem war ich besorgt. Als sie sich vorbeugte, um mir die Speisekarte zu reichen, konnte ich ein wenig in ihren Ausschnitt sehen und erinnerte mich zuerst an die zerstörte Fotografie und als Nächstes an den einen Sekundenbruchteil währenden Blick, den ich im Hinterzimmer des Baxter’s auf ihren Busen hatte werfen können. Und hier war es erneut, dieses perfekte Tal aus Fleisch.
Ich biss mir beinahe die Zähne ins Zahnfleisch, als ich den Blick abwandte. Großer Gott! Ich hoffte, sie hatte es nicht bemerkt.