Ich kicherte. »Mary, keine Macht der Welt könnte mich das vergessen lassen.«
Ein weiterer schneller Kuss, dann wandte sie sich ab und nahm den Fünfzigdollarschein an sich, den ich auf dem Tisch liegen gelassen hatte. »Ich bin gleich mit Ihrem Wechselgeld wieder da.« Als sie nach hinten eilte, verließ ich leise das Restaurant.
Der Himmel verdunkelte sich auf spektakuläre Weise, als ich auf die Hauptstraße hinaustrat. Die versinkende Sonne tauchte die Wolken über der Küste in unglaubliche Farben. Die einfachen Pflastersteine auf der Straße schienen zu glänzen; gut gekleidete Passanten schlenderten fröhlich an mir vorbei, die perfekten menschlichen Zutaten zu einem Abend voll friedlichen Zaubers. In diesem Moment ging mir auf, dass ich mich nie zufriedener gefühlt hatte.
Eine schrille Sirene zerriss die abendliche Stille. Ich bog um die Ecke und sah einen langen rot-weißen Krankenwagen auf dem Gehweg, um den mehrere uniformierte Bedienstete herumwuselten. Einige Anwohner standen daneben und schauten besorgt zu.
Was ist denn hier los?, dachte ich, und meine gute Laune war augenblicklich verschwunden, als ich bemerkte, dass sich die Aktivitäten auf den Discountladen konzentrierten, den ich früher am Tage aufgesucht hatte. In diesem Moment wurde eine Trage aus dem Laden gebracht, und auf dieser lag ein sehr ruhiger und sehr bleichgesichtiger Mr. Nowry. Die schwangere Frau des Mannes stand in der Tür und schluchzte in aller Öffentlichkeit.
Oh nein …
»Der arme Mr. Nowry«, verkündete eine leise Stimme neben mir. »Er war so ein netter Mann.«
Ich drehte mich um und sah eine attraktive rothaarige Frau neben mir stehen. »Ich … Ich hoffe, er ist nicht verschieden. Er war ein so freundlicher Mann, wie man ihn zu treffen sich nur wünschen kann; vor ein paar Stunden noch habe ich mich mit ihm unterhalten.«
»Vermutlich ein weiterer Herzanfall«, äußerte sie vorsichtig.
»Ich gehe mal und schaue«, sagte ich und machte mich auf den Weg zu dem nachlassenden Tumult. »Sir? Entschuldigen Sie bitte die Störung«, fragte ich einen der Krankenpfleger, »aber könnten Sie mir verraten, wie es Mr. Nowry geht?«
Der jüngere Mann sah müde und ausgelaugt aus. »Ich fürchte, er ist vor wenigen Minuten gestorben. Wir konnten nichts mehr für ihn tun – seine Pumpe hat letztlich versagt.«
Ich senkte den Kopf. »Ich habe ihn kaum gekannt, aber nach dem, was ich sehen konnte, war er ein guter Mann.«
»Oh, sicher, ein Olmsteader durch und durch.« Er wischte sich die Stirn. »Aber heute ist schon ein komischer Tag. Das sage ich Ihnen.«
»In welcher Beziehung?«
»In einer Kleinstadt wie dieser haben wir nicht mehr als zwei oder drei Todesfälle pro Jahr, aber heute? Das war jetzt schon der zweite.«
»Der zweite? Wie tragisch.«
Die Trage mit dem Verblichenen wurde jetzt hinten in den Wagen geladen. Der Mann, mit dem ich mich unterhielt, deutete ins Innere. »Ein junges Mädchen ebenfalls, noch keine halbe Stunde her. Eins von denen, die sich in schlechter Gesellschaft befanden, aber dennoch … Sie ist bei der Niederkunft gestorben.«
Ich schaute, wohin er deutete, und bemerkte eine zweite Trage.
Augenblicklich verengte sich mein Hals.
Ein dünnes Mädchen in den Zwanzigern mit strähnigem Haar lag dort tot neben Mr. Nowry, und ein Laken bedeckte es bis zum Kinn. Trotz der Leichenblässe erkannte ich ihr Gesicht.
Es war Candace – eine von Zalens verschrienen Fotomodellen und Prostituierten. Aber der dicke, angeschwollene Bauch war jetzt fort, nur angeschwollene Brüste waren unter dem Laken noch erkennbar.
»Bitte sagen Sie mir, dass ihr Baby überlebt hat«, beschwor ich ihn.
»Dem Baby geht es gut«, bestätigte er.
»Gelobt sei Gott …«
Der Mann sah mich äußerst merkwürdig an, dann schloss er die Hecktür des Krankenwagens und ging seines Weges.
Ich kehrte zu der Frau zurück, mit der ich gesprochen hatte. »Leider ist Mr. Nowry verstorben. Wir sollten ihn in unsere Gebete einschließen.« Ich warf der armen Witwe, die immer noch weinend in der Ladentür stand, einen traurigen Blick zu. »Seine Frau tut mir sehr leid.«
»Es dürfte bei ihr jetzt jeden Tag so weit sein«, berichtete mir die Frau mit hoffnungsvoller Stimme. »Sie müssen sich keine Sorgen machen; die Nowrys leben schon seit Langem in der Stadt. Das Kollektiv wird sich um seine Witwe kümmern.«
Ein weiterer Hinweis auf dieses Kollektiv. Mein anfänglicher Eindruck war aufgrund der unvermeidlichen Assoziationen nicht gerade positiv gewesen, aber nun schien es, dass ich zu hastig geurteilt hatte. Die Initiative hörte sich vielmehr nach einem tauglichen System der sozialen und finanziellen Verwaltung und Profitverteilung an. Es war ermutigend zu wissen, dass Mrs. Nowry nicht auf sich allein gestellt sein würde. Und was Candace’ Neugeborenes betraf … nun, ich konnte bloß annehmen, dass sich Familienangehörige darum kümmern würden oder es zu einer Pflegefamilie kam.
»Sie sind neu in der Stadt«, stellte die Rothaarige deutlich lächelnd fest. Dann seufzte sie. »Nur auf der Durchreise, fürchte ich.«
»Ja, das stimmt, aber warum ist das so schlimm?«
»Die gut aussehenden Männer bleiben nie lange.«
Diese schmeichelhafte Äußerung traf mich unvorbereitet. »Das ist, äh, sehr nett von Ihnen, Miss, aber ich muss mich jetzt leider verabschieden. Guten Abend.« Ich ging schnell fort. Frauen, die mich so unerwartet mit Komplimenten bedachten, machten mich jedes Mal sprachlos. Zumindest hinterließ es, wenn auch selbstsüchtig gedacht, ein gutes Gefühl. Als gut aussehend hatte ich mich noch nie betrachtet. Ich lächelte dann, als ich mich erinnerte, dass Mary sich ähnlich geäußert hatte.
Die Schicht am Empfang hatte gewechselt, als ich zurück im Hilman House war; eine ältere Frau mit herabhängenden Schultern hütete die Rezeption.
»Ma’am, ich würde einem Ihrer Gäste, einem Mr. William Garret, gern eine Nachricht hinterlassen«, sagte ich zu ihr. »Wären Sie so freundlich, ihm diese zukommen zu lassen?«
Ein Ausdruck der Verwirrung trat kurz in ihre Augen. Sie schaute ins Gästebuch. »Ach herrje, Mr. Garret hat sich vor einigen Stunden ausgetragen, zusammen mit einem Bekannten.«
»War das etwa Mr. Poynter?«
»Ja, Sir, das ist korrekt. Sie haben den Bus genommen. Sie wollten zurück nach Boston, glaube ich.«
»Verstehe. Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.«
Das erklärte einiges, auch wenn ich es bedauerte, Garret nicht mehr wiederzusehen, sei es auch nur, um ihm Glück für die Zukunft zu wünschen. Zumindest hatte er seinen Freund Poynter wiedergefunden. Zu schade, dass sie hier keine Anstellung hatten finden können.
Auf meiner Etage traf ich auf dem Gang ein Zimmermädchen, das einen Wagen vor sich herschob. Sie lächelte und begrüßte mich. Es dauerte einen Augenblick, bis ich sie erkannte.
Es war die junge Frau, mit der ich schon bei meiner Ankunft gesprochen hatte, die Schwangere, jetzt allerdings …
»Oh, meine Liebe!«, rief ich aus. »Wie ich sehe, haben Sie Ihr Kind bekommen …«
»Ja, Sir«, erwiderte sie recht ungerührt. »Einen Jungen.«
»Da sind wohl Glückwunsche angebracht, aber – wirklich – Sie sollten sich ausruhen, nicht arbeiten!«
Sie starrte mich mit geneigtem Kopf nachdenklich an. »Ich räume nur ein wenig auf, Sir, dann kann ich nach Hause.«
»Aber es ist inakzeptabel, dass Ihr Arbeitgeber darauf besteht, dass Sie so kurz nach der Geburt schon wieder arbeiten …«
»Ehrlich, Sir, ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, aber mir geht es gut. Ich werde mich sehr bald hinlegen.«
»Das hoffe ich doch.« Ich war erschüttert. Und das trotz all der neuen Arbeitsgesetze, die vor einer derartigen Ausbeutung schützen sollten. »Wo ist das Baby?«