Nach einer seltsamen Pause antwortete sie: »Zu Hause, Sir. Bei meiner Mutter …« Sie schenkte mir ein sanftes Lächeln, das mir gezwungen vorkam, und schob ihren Wagen weiter.
Das ist ja unfassbar, dachte ich. Ein weiterer Grund für Mary, hier herauszukommen. Stadtkollektiv hin oder her, Arbeitskräfte – und ganz speziell schwangere Frauen – sollten nicht als simple Betriebsmittel betrachtet werden. Gewissen medizinischen Umständen musste immer Spielraum gegeben werden.
Ich hatte bereits beschlossen, Mary und ihre ganze Familie mit zurück nach Providence zu nehmen. Sollte sich das als Fehler herausstellen, dann war das eben so. Zumindest hätte ich es versucht. Mir war nur nicht klar, wie und wann ich meinen Wunsch vermitteln sollte. Es war von allergrößter Wichtigkeit, dass sie wusste, dass nichts als Gegenleistung von ihr erwartet wurde, wovon sie schwer zu überzeugen sein dürfte, angesichts der dunkleren Aspekte ihrer Vergangenheit.
Ich werde ihr ihre Last nehmen, beschloss ich, und ihr das Leben ermöglichen, das sie verdient. Und vielleicht, nur vielleicht …
Eines Tages hätte ich vielleicht das Privileg, sie zu heiraten.
So viel zu meinen »platonischen« Absichten, doch es war unerlässlich, dass ich ehrlich mir selbst gegenüber war. Natürlich war mein Idealismus groß, und ich wusste, dass sich die Dinge nicht immer so entwickelten, wie wir es uns erhofften.
Aber ich wusste, was ich wollte. Ich wollte sie. Und ich werde alle Anstrengungen unternehmen, um der Mann zu sein, nach dem sie sich sehnt, den sie bisher jedoch nie hatte.
Mir war klar, dass ich die Wogen nicht nur meines Zorns über die Ausbeutung des jungen Zimmermädchens, sondern auch der Trauer über Mr. Nowrys Herzinfarkt glätten und auf andere Gedanken kommen musste. Ich entschied dann, mich in der Stille des sauberen Zimmers zu entspannen, daher setzte ich mich auf mein Bett und schlug mein Lieblingsbuch auf: Schatten über Innsmouth. Allerdings wollte ich jetzt nicht konzentriert darin lesen; das sparte ich mir für den kommenden Tag auf, wenn ich den perfekten Platz, vielleicht sogar mit Blick auf den Hafen, gefunden hatte. Auch wenn dort andere Gebäude standen, waren das Hafenbecken selbst ebenso wie die geheimnisvolle See dahinter die gleichen, die Lovecraft erspäht hatte, als ihm die Grundzüge zu seinem Meisterwerk erstmals in den Sinn gekommen waren, eine brillante Verschmelzung aus Atmosphäre, Konzept, Charakteren und letztendlich Horror. Augenscheinlich war Lovecraft derart von Irwin Cobbs angeberischem, doch höchst makabrem »Fischkopf« und auch Robert Chambers’ fehlerhaftem, aber bildergetränktem »Hafenmeister« beeinflusst gewesen, dass er die Grundlagen dieser Geschichten ergriffen und diese in geniale neue Richtungen geführt hatte, um seine eigene überragende Geschichte über symbolische – und gänzlich monströse – Rassenmischung zu weben. Als der Erzähler Robert Olmstead darin zufällig auf den verfallenden und legendenumwobenen Seehafen von Innsmouth stößt, kommt er als Erstes dahinter, dass die Stadtbewohner vor langer Zeit eine Art Pakt mit einer Rasse schrecklicher amphibischer Meereswesen eingegangen sind, die Captain Obed Marsh, ein Seehändler, auf einer Reise nach Ostindien entdeckt hatte; als Zweites und Schlimmstes, dass dieser monströse, von Habgier getriebene Pakt nicht nur Menschenopfer beinhaltete, sondern auch die ungezügelte Kreuzung der Kreaturen – der Tiefen Wesen – mit der menschlichen Bevölkerung von Innsmouth. Jede Seite, auf die ich umblätterte, führte mich zu einem Bild oder einer Zeile, das beziehungsweise die ich leicht als meinen Favoriten erachten konnte.
Dies war so eine, eine Dialogzeile, gesprochen von niemand anderem als dem »alten Säufer« Zadok Allen, dessen Vorbild aus dem wirklichen Leben Zalens Großvater Adok gewesen war. Die Zeile lautete wie folgt: »So ein’n wie den Käpt’n Obed gibt’s kein zweites Mal nich – der alte Satansbraten. Ho, ho! Ich weiß noch gut, wie er immer von fremde Länder erzählt hat un die Leute für blöd erklärt hat, weilse inde christliche Kirche gegang sind und sich demütich mit ihr’m Schicksal abgefund’n hab’n. Soll’n sich bessere Götter anschaffen, sagt er, wie die Völker auf’n Westindischen – solche Götter, wo ihn’n für ihre Opfer jede Menge Fisch geb’n und wirklich die Gebete von’n Leuten erhörn.«
Naturgemäß amüsierte mich die sich anbietende Parallele: »jede Menge Fisch«, den die Tiefen Wesen nach Innsmouth gebracht hatten im Austausch für blutige Opfergaben. Ich musste kichern wegen des Reichtums an lokalem Fisch in dieser sehr realen Stadt. Beinahe hätte ich laut aufgelacht!
Etwas, das ich meinem Unterbewusstsein zuschrieb, bewirkte, dass ich mit dem ziellosen Blättern aufhörte, und als Nächstes rasteten meine Augen auf einer weiteren Zeile von Zadok Allens volltrunkenem Gestammel ein: »Obed Marsh, der hat drei Schiffe gehabt – die Brigantine Columby, die Brigg Hetty un die Bark Sumatry Queen …«
Ein Schwindel befiel mich, als ich diese Worte anstarrte. Dann: Natürlich! Ich wusste, dass ich diese Namen schon einmal gesehen hatte! Sie waren die ganze Zeit hier … Denn jetzt erinnerte ich mich daran, dieselben Namen an den dekorativen Schiffsplaketten im Restaurant gesehen zu haben.
Also existierte nicht nur die Stadt »Innsmouth«, wenngleich unter ihrem wahren und nicht allzu verschiedenen Namen Innswich, ebenso hatte es in der dunklen Vergangenheit dieser Stadt diese Handelsschiffe gegeben. Ich konnte nicht anders, als Lovecraft ob der Gewissenhaftigkeit seiner Nachforschungen zu bewundern – etwas, für das er durchaus bekannt war –, dass er solch minutiöse Details aus der Realität übernahm und in seine fiktive Handlung einflocht.
Ich las Teile einiger weiterer Szenen erneut, alle mit außergewöhnlichem Vergnügen, dann legte ich das Buch beiseite in heißer Erwartung, es am nächsten Tag noch einmal komplett zu lesen. Aber in Bezug auf den nächsten Tag gab es etwas, auf das ich mich noch mehr freute …
Ich muss möglichst gut aussehen, erkannte ich und erschauderte dann, als ich meinen Koffer öffnete und meinen besten Anzug in zerknittertem Zustand vorfand. Um diese Zeit würde nirgends mehr offen sein, wo ich ihn frisch aufbügeln lassen konnte; daher konnte ich nur hoffen …
Als ich in den Wandschrank blickte, erkannte ich, dass ich Glück hatte! Dort, angelehnt, stand ein aufklappbares Bügelbrett, und auf dem obersten Regalbrett befand sich ein Dampfbügeleisen. Ich wusste so gut wie nichts über derartige Tätigkeiten, aber wie schwer konnte es schon sein? Ich nahm das Bügelbrett heraus und suchte nach einer Art Verriegelungsstift, um die Beine auszuklappen, als …
»Verflixt!«
… es rutschte mir aus den Händen und schlug gegen die Rückwand des Schrankes.
»Oh, um Himmels willen!«, beschwerte ich mich lautstark, als ich sah, dass das leichte Brett mit solcher Kraft gegen die Rückwand geschlagen war, dass es darin tatsächlich ein Loch hinterlassen hatte. Die Hotelleitung wird darüber nicht allzu sehr erfreut sein, dachte ich. Bis ich ihnen das Doppelte der Reparaturkosten bezahle. Ich trat hinein, um das Bügelbrett herauszuholen, ließ mich dann herunter auf ein Knie, um den Schaden zu inspizieren. Stücke von Putz lagen herum, indes schien die Beschädigung der Gipswand 30 cm lang und mehrere Zoll breit. Das war eine unsolide Konstruktion, gelinde gesagt, doch hatte ich diesen stümperhaften Unfall allein meiner eigenen Ungeschicklichkeit zuzuschreiben.
Doch bevor ich aufstehen konnte …
Als ich mein Gesicht vor den Spalt hielt, schien ein ganz schwacher Lichtfaden in der Dunkelheit jenseits der Gipswand zu hängen. Kurze Überlegung sagte mir, ich hatte ein kleines Loch in der Seitenwand entdeckt, die nur die Wand zu meinem Badezimmer sein konnte. Als ich hastig aufstand und ins Bad ging, stellte ich fest, dass ich dort versehentlich das Licht angelassen hatte.