Anfänglich glaubte ich, ich müsse einen Partikel von irgendwas im Auge haben, aber je länger ich starrte, desto überzeugter war ich, dass etwas Kleines die nächtliche Ruhe im Hafen störte.
Ein Boot, dachte ich.
Es war lediglich ein kleines Ruderboot, und nur eine Person befand sich an Bord, die es leise ins Hafenbecken hineinruderte. Einige Augenblicke fluchte ich gotteslästerlich in mich hinein, als einige tiefer stehende Wolken den Mond verdeckten und die mysteriöse Szene in Dunkelheit tauchten. Wahrscheinlich war es nur ein Krebsfischer oder jemand, der die Bojen überprüfte, aber ich konnte den Verdacht nicht abschütteln, dass es sich um etwas anderes handelte. Als die Wolken sich verzogen, sah ich, dass das kleine Boot zum längsten Finger der Sandbank gesteuert und dort an Land gezogen worden war; die Einmanncrew war bereits ausgestiegen …
Er läuft die Sandbank entlang, erkannte ich sogleich. Und … was führt er da mit sich?
Tatsächlich war die Gestalt in der Ferne geschlagen mit etwas, das nach einem Sack aussah, den er hinter sich herschleppte. In diesem Augenblick verzog sich der Wolkenschleier vollständig vom strahlenden Angesicht des Mondes, und auf einmal erstrahlte der gesamte Hafen in sprödem, geisterhaft weißem Licht.
Selbst aus dieser Entfernung konnte ich genug erkennen. Die Gestalt trug etwas, das ich eindeutig als langen, verschmierten schwarzen Regenmantel mit Kapuze erkannte …
Zalen.
Er blieb stehen, als er am breitesten Punkt der Sandbank angekommen war. Dann stand er einfach minutenlang da, den Kopf nach unten geneigt, als ob er …
Als ob er auf etwas wartet, kam mir morbiderweise in den Sinn. Auf etwas, das sich im Wasser befindet …
Und dann tauchte aus ebendiesem Wasser tatsächlich etwas auf.
Ja, eine Gestalt, aber eine unbekleidete, die von Beulen übersät war und in einem grünlichen Farbton glänzte. Schlank und hochgewachsen stand sie da, besaß jedoch sehr lange Gliedmaßen, einen fast flachen Kopf sowie ein Gesicht, das nach vorne spitz zulief. Selbst aus dieser weiten Entfernung konnte ich erkennen, wie riesig die niemals blinzelnden Augen waren; wie Kristallkugeln wirkten sie, in denen eine unterschwellige Bedrohung glitzerte. Schließlich erhoben sich zwei weitere dieser urzeitlichen Gesichter langsam aus dem Wasser und legten im Mondlicht den gesamten Körperbau offen. Eine der Gestalten war definitiv weiblich mit großen Brüsten und breiteren Hüften als die anderen beiden, während deren Männlichkeit lang an der Lende herunterhing. Ich war dankbar, dass mir die Distanz weiteren Aufschluss über die physischen Details verwehrte.
Das erste Wesen streckte den Arm aus und nahm Zalen den angebotenen Sack ab …
Niemand musste mich über den Inhalt des Sackes aufklären, denn als die Kreatur ihn öffnete und hineinsah, ertönte ein leises Geräusch, leise, jedoch unverkennbar.
Das qualvolle Wimmern eines neugeborenen Babys.
Mehr und mehr wurde alles Wirklichkeit. Wie konnte ich leugnen, was meine Augen sahen? In all diesem schaurigen Wahnsinn, was konnte es da für eine vernünftige Erklärung? Auf der Sandbank nahmen die drei Monstren ihre menschliche Beute an sich und kehrten in die nassen Tiefen zurück, während Zalen wieder in sein Boot stieg und fortruderte, und dann …
Bums!
Ich gehe davon aus, dass der plötzliche Schock mich aufbrüllen ließ. Eine spindeldürre, jedoch angriffslustige Masse sprang von oberhalb der Felszunge, wo ich saß, herab und landete auf mir: blassweiße Haut und ein dünnes, grimmiges Gesicht, aber seltsam tote Augen und umgeben von einer Aura aus langem, dünnem, umherwehendem Haar. Eine dünne Hand schnappte auf einmal nach meiner Kehle und begann, mit großer Kraft zuzudrücken. Es war der Schreck über die Plötzlichkeit des Angriffs sowie die vorherigen Enthüllungen, der meine Gedanken beeinträchtigte. Mehr der Instinkt denn entschlossene geistige Berechnung steuerte meine Verteidigungsversuche, so schwächlich sie auch sein mochten. Nur einen Bruchteil meiner Willenskraft aufbringend, konnte ich dennoch feststellen, dass meine todesfeeartige Angreiferin weder zu den Wesen gehörte, die Zalen auf der mondbeschienenen Sandbank bedrängt hatten, noch ein lebendiges Exemplar der Halbmensch-Halbmonster-Hybriden war, die ich unter der Erde entdeckt hatte. Stattdessen hatte ich es mit einer feindseligen und völlig menschlichen Frau zu tun, die mit einer Hand an meiner Kehle zerrte, während sie mit der anderen nach meinen Augen stach. Weiße Zähne schnappten nach mir und schlossen sich Zentimeter vor meinem entsetzten Gesicht wieder, aber als ich mir ihr Gesicht genauer ansah, schrie ich erneut und sehr viel lauter als zuvor. Diesen Schrei musste jeder in Ufernähe gehört haben, denn er hallte kanonengleich über das dunkle Wasser.
Das nackte, wilde Ding, das über mir hockte, war Candace, die ehemals schwangere Prostituierte, die Zalen als obszönes Fotomodell gedient hatte. Von ihrem aufgeblähten Bauch befreit, sahen ihre von der Milch angeschwollenen Brüste viel zu groß aus für eine so dünne Frau. Ihr Tod direkt nach der Geburt hatte dafür gesorgt, dass sie unter den Augen dunkle Flecken hatte, die wie Teerspuren aussahen, und dass ihre geschwollenen Brustwarzen blau angelaufen waren.
»Ich habe dich gesehen«, keuchte ich, »im Krankenwagen! Du bist tot!«
»Bin ich das?«, erwiderte sie trocken und abgehackt. Kein Atemzug drang aus ihrem Mund, während sie dies sagte, aber noch schlimmer klang ihr Faksimile eines Lachens, als sie mir die Kehle noch fester zudrückte und mir mit der anderen Hand in den Schritt fasste.
»Wir … Wir könnten eine schöne Zeit zusammen haben, Sir …«
Es war so abscheulich. Mit der Sanftheit einer Geliebten streichelte sie mich zärtlich im Schritt, während die Finger ihrer anderen Hand sich so tief in meine Kehle gruben, dass ich schon glaubte, sie würde mir jeden Moment die Luftröhre durchtrennen und den Adamsapfel aus dem Hals reißen. Mir war klar, dass der Tod sie in die Rolle des zuvor erwähnten »Wächters« berufen hatte.
Falls meine Schreie die Anwohner am Ufer noch nicht alarmiert hatten, dann hatte es der darauf folgende Schuss auf jeden Fall getan. Dieser verjüngte Kadaver, der vor nicht allzu langer Zeit noch eine missratene junge Frau namens Candace gewesen war, krachte gegen die Felsen. Die Todesangst hatte mich unterbewusst meinen Schrecken überwinden lassen, sodass ich die Hand in die Tasche stecken und meinen kleinen, mehrschüssigen Revolver Kaliber .32 hervorholen konnte. Der blind abgegebene Schuss hatte sie in der Nähe des linken Ohres getroffen und einen ordentlichen Teil ihrer Schädeldecke mit sich gerissen. Keuchend schnappte ich nach Luft, während ich mit ansah, wie der nackte Leichnam gegen die Felsen prallte. Durch den Schuss war ich mit kalten Brocken ihrer verschlungenen Hirnmasse bespritzt worden sowie mit übel riechendem Blut, das schwärzlich aussah und nicht rot, außer dass es in schwachem Maße von Fäden eines fremdartigen Bestandteils durchzogen war, die blassgrün leuchteten. Insgesamt roch es nach schwerem Motoröl und Fisch.
Die Überlegung, einen Abgang zu machen, kam schlagartig, da in vielen Häusern entlang des Ufers Lichter angingen. Obwohl Candace einen moderaten Teil ihres Gehirns verloren hatte, erhob sie sich zögernd und taumelte mir hinterher, doch nicht, bevor ich genug Vorsprung erlangt hatte, dass er ihre Jagd sinnlos machte.
Ich eilte an der Felswand entlang und hoffte, dass mich die düsteren Brocken und das unregelmäßige Licht verbergen würden. Schließlich überquerte ich die Anliegerstraße, rannte zwischen zwei Fischfabriken hindurch und entkam diesem unheimlichen Hafengebiet in den Wald.
Gott schütze mich, Gott schütze mich, spann mir das vergebliche Gebet im Kopf herum. Nur vereinzelt drang das Mondlicht in die Randzone des Waldes; ich wagte es nicht, tiefer einzudringen, da ich sonst gar nichts sehen würde – und ich wollte meine Position nicht möglicherweise dadurch verraten, dass ich auf meine Taschenlampe angewiesen war, deren Batterien bereits schwächer wurden. Doch so desorientiert ich nach meinen Erlebnissen auch war, war ich halbwegs sicher, dass ich mich in nördlicher Richtung voranbewegte – in die Richtung, die mich zwangsläufig zuerst zu Marys Haus und dann letzten Endes aus der Stadt heraus führen würde. Ich wusste, dass Kilometer angestrengten Gehens vor mir lagen, bis ich die nächste, sichere Stadt erreicht hätte. Wenn ich doch nur ein Telegrafenbüro finden konnte – von einigen wusste man, dass sie vierundzwanzig Stunden am Tag besetzt waren – oder gar eines der seltenen Telefone. Doch als ich mich zwischen den stämmigen Bäumen hindurchschlängelte, wusste ich, dass es einen Ort gab, den ich vor allen anderen aufsuchen musste …