Zalen zuckte mit den Achseln. »Das tun sie nicht oft, nur wenn sie weitere Arbeiter brauchen …«
»Sie sprechen davon, die Toten wieder zum Leben zu erwecken!«, rief ich aus.
»Seien Sie doch leise!«, fuhr er mich an. »Und ich rede von weitaus mehr als das. Sie sollten besser beten, dass Sie keinen der Vollblütigen je zu Gesicht bekommen, aber lassen Sie sich nicht täuschen. Sie mögen primitiv aussehen, aber sie sind den Menschen in jeder Hinsicht überlegen. Und, ja, sie haben eine Art Reagenz, mit dem sie Leuten das Leben wiedergeben können, die unter gewissen Umständen gestorben sind. Das hatten sie schon immer. Es ist eher so ein zelluläres Zeugs …«
Mehr genetische Wissenschaft, erkannte ich, aber meine Gedanken waren weiterhin abgelenkt. Ich bekam sie einfach nicht mehr aus dem Kopf. »Wie lange … ist Mary schon Teil des Stadtkollektivs?«
»Fünf Jahre, vielleicht auch sechs. Wen interessiert das schon? Und wo wir gerade von Ihrer kostbaren Mary sprechen …« Zalen blieb mitten im Wald stehen und drängte mich in westliche Richtung. Plötzlich riss ich im kühlen Mondlicht die Augen auf; ich erblickte etwas, das ich schon einmal gesehen hatte …
Wo der bescheidene See zuvor im Sonnenlicht geglänzt hatte, schimmerte er nun im Licht des Mondes. Am Ufer konnte ich flüchtig einige Gestalten erkennen.
Zalen hielt mich zwischen den Bäumen zurück, bevor ich die Gelegenheit hatte, vorwärtszustolpern. »Keinen Ton!«, warnte er.
Es wäre mir nicht einmal im Traum eingefallen, jetzt etwas zu sagen; ich wollte es sehen. Mehrere Dutzend Frauen standen im Halbkreis direkt am Ufer, und ich muss zugeben, dass ich beim ersten flüchtigen Blick an Okkultismus gedacht habe. Die späte Stunde, das Mondlicht und der Ort, all das provozierte eine namenlose finstere Assoziation in meinem Kopf …
Die Frauen trugen einfache Roben, deren Farbe ich im intensiven Mondlicht nicht ausmachen konnte, doch was man erkennen konnte, waren fransige Stoffstreifen, durch Stickereien in einer helleren Farbe unterteilt. Innerhalb dieser Segmente waren aufwendigere Stickereien zu sehen; recht glyphenartige Symbole und die merkwürdigsten geometrischen Formen, die mir Kopfschmerzen bereiteten, wenn ich sie zu lange ansah. Bewegten sich die Ränder dieser schrecklichen geometrischen Symbole tatsächlich? Jede der Frauen hielt außerdem eine Kerze vor sich – eine Kerze, deren Flamme grün brannte –, und ich glaubte, einen leisen Gesang zu vernehmen, dessen Noten bis tief in mein Innerstes eindrangen; ein Gefühl unsagbarer Furcht aufgrund der Illusion vollkommener Abwesenheit. Kein Licht, keine Güte, keine Moral, Abwesenheit von allem Vernünftigen. Noch leiser als die Klänge unbekannten Ursprungs drang eine vokale Diafonie an mein Ort, bei der ich am liebsten auf die Knie gefallen wäre und mich übergeben hätte: eine misstönende und kakodämonisch unstrukturierte Sequenz aus Worten, die sich anhörten wie:
»Ei …«
»Cf’ayak vulgtuum …«
»Ei …«
»Vugtlagln, sjulnu …«
»Ei, ph’nglui, hkcthtul’ei …«
»Wgah’nagl fhtagen–ei …«
»Ei, ei, ei …«
Die perversen Gesänge schienen eher leiser als lauter zu werden, aber aus irgendeinem Grund, je schwerer dieses teuflische Lied zu verstehen war, eine umso größere Wirkung hatte es auf meinen Geist; ein veritabler Druck, ein Tasten auf dem Gesicht. Doch so krank ich mich fühlte, spürte ich gleichzeitig etwas anderes: eine äußerst starke sexuelle Erregung.
»Halten Sie sich zurück«, flüsterte Zalen. Er zwang mich tiefer in die Hocke. »Dieser See geht in die Bucht über …«
Der Ernst dieser Information wurde mir zuerst nicht klar. Mein Blick blieb weiterhin gefangen von diesen makaberen Frauen in ihren Roben. Der Refrain wurde erneut gesungen, als auf einmal alle Frauen ihre Roben fallen ließen und nackt dastanden.
Nackt, wie mir unweigerlich auffiel, und schwanger.
Alldieweil schien der Gesang mein Gehirn in meinem Schädel zusammenzudrücken. Es war schmutzig und erotisch, dies auf solch eine Weise zu sehen, dass ich einfach nicht wegschauen konnte – es war in der Tat böse. Die meisten der Frauen schienen in den Zwanzigern zu sein, aber ich machte auch Mrs. Nowry aus und einige andere mittleren Alters. Dann warfen sie alle nacheinander ihre seltsame grüne Kerze ins Wasser, und ich hätte schwören können, als diese unter die Oberfläche sanken, ging keine der grünen Flammen aus. Gleichzeitig schienen sich meine Augen besser an die glänzende Nacht zu gewöhnen: Das Mondlicht wurde heller und klarer, wodurch ich schärfer sehen konnte. Selbst aus dieser beträchtlichen Entfernung konnte ich kleinste Details an jeder der schwangeren Frauen erkennen. Ich sah die Poren auf deren weißer Haut, die feine Linie zwischen Iris und dem Weiß der Augen, die Feinheiten jeder einzelnen Brustwarze sowie das filigrane Venenmuster jeder mit Milch gefüllten Brust. Schließlich ließen sich alle in die Brühe am Uferrand nieder; was sich dann abspielte, werde ich lediglich als obszönes Bacchanal des Fleisches bezeichnen, eine freizügige Orgie, fixiert auf die gegenseitige Befriedigung wie auf der Insel Lesbos. Ich muss wohl nicht gesondert erwähnen, dass es sich bei einer der lüsternen Beteiligten um Mary handelte …
Meine Augen starrten hingerissen die orgiastische Szene an, und für eine Weile glaubte ich, dass ich selbst mit einer Waffe an meinem Kopf nicht hätte wegschauen können, und das trotz der Selbsterkenntnis, dass die Augen abzuwenden die einzige gottgefällige Handlungsweise gewesen wäre. Aber es war Zalen, nicht Gott, der mich zum Ablassen drängte.
»Es kommt gleich raus …«
»Es?«, fragte ich flüsternd.
»Wir werden nicht hierbleiben, um es anzuschauen. Glauben Sie mir, Morley, Sie wollen es gar nicht sehen …«
Er schleifte mich zurück in den Wald, genau in dem Moment, in dem sich eine Gestalt aus dem Wasser zu erheben begann.
Glücklicherweise wurde mein Kopf wieder annähernd klar. »Was … Was war das, Zalen?«
»Das war einer von ihnen. Was dachten Sie denn?«, rügte mich der langhaarige Mann in dem schmutzigen Regenmantel.
Einer von ihnen, dachte ich. Ein Vollblütiger …
»Einer der Hierarchen, aber es könnten auch andere in der Nähe sein.«
Ich schreckte ob des Aberwitzes zurück. »Das war ein okkultes Ritual, das wir da gerade beobachtet haben, Zalen. Nach allem, was ich herausgefunden und was Sie mir erzählt haben, muss da noch mehr sein …«
»Natürlich ist da noch mehr«, erwiderte der dürre Strolch. »Aber der ganze Scheiß da draußen am See?« Er wirkte amüsiert. »Das ist nur Tradition, Morley; es ist nur ein Ritual; es bedeutet gar nichts. Es beweist lediglich, wie viel armseliger die Mentalität der Menschheit ist; der einzige Weg, auf dem wir jemals wirklich eine Verbindung zu den Vollblütigen aufbauen konnten – selbst schon zu Zeiten von Obed Larsh –, ist ignorante Rituale wie dieses ausführen …«
»Nichts als Fassade«, spekulierte ich, denn der Okkultismus im Werk des Meisters war ebenso gestaltet. »Wollen Sie mir das damit sagen?«
»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Was wie eine Teufelsanbetung und schlichtes Heidentum aussieht, ist nur der Zuckerguss auf einem ganz anderen Kuchen.«
Diese Analogie, so banal sie auch gewesen war, bestätigte meine Vermutungen. Ich folgte Zalen eine Zeit lang unbewusst, da mein Kopf mit einer Überfülle an Spekulationen beschäftigt war. »Doch alle gesellschaftlichen Systeme haben letzten Endes einen bestimmten Zweck«, insistierte ich. »Wenn dieser Okkultismus nur Fassade ist – oder ›Zuckerguss‹ –, dazu da, um etwas anderes zu verbergen … was ist dann dieses andere?«