»Aber wo steckt er?«, fragte ich. »Der Ort sieht verlassen aus.«
»Wahrscheinlich sind sie zu Bett gegangen, nachdem sie das Fleisch zum Räuchern aufgehängt haben«, vermutete er und deutete auf die Reihen hochgelagerter Metallfässer, die als Kochgerät herhielten. »Das wäre gut für uns … Aber halten Sie Ihre Waffe vorsichtshalber bereit.«
Ich gehorchte der Anweisung und folgte ihm auf das überwucherte Gelände. Wir gingen mit großer Sorgfalt weiter, um ja nicht auf einen Ast zu treten. Mondlicht und Schatten tauchten die diversen Hütten in helle und dunkle Flecken; mehrere Paare kleiner Augen funkelten uns an, als die Schweine im Pferch uns bemerkten. Eine Eule stieß einen Schrei aus und wurde dann still.
»Das scheint nicht ordnungsgemäß«, kommentierte ich die Leinensäcke in der Nähe der Fässer. »Diese Säcke scheinen voll zu sein. Ich habe Onderdonk mit eigenen Augen gesehen, wie er die Säcke aus der Höhle getragen hat, nachdem er und sein Sohn einige der Mischlingsleichen zerhackt haben.«
Zalen öffnete einen Sack; in ihm befanden sich noch Streifen frisch zerkleinerten Fleisches. »Ja, und wenn das Fleisch noch in den Säcken ist, was zur Hölle ist dann …«
Die Frage erforderte keine Vervollständigung. Ich nehme an, tief in meinem Inneren kannte ich die Antwort schon, bevor wir die Deckel der Räucherfässer abhoben. Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe hinein, dann zuckten wir beide zusammen.
Rauch quoll von Onderdonks mit rosa Pusteln übersätem Gesicht auf, während Schwaden davon an den Haaren auf seinem Kopf herunterhingen. Weiterer Rauch kam aus seinem Mund, der im Tode zu einem schrecklichen Schrei erstarrt war; seine Augen waren wolkenweiß geronnen. Ein starker, schweineartiger Geruch verbreitete einen Bodennebel überall in dem Kuddelmuddel der Hütten. Ein weiteres Fass besiegelte das Schicksal von Onderdonks Jungen – ein wahrhaft mitleiderregender Anblick. Das geringere Körpergewicht und die Wahrscheinlichkeit, dass der Junge schon länger »gekocht« wurde als sein Vater, wurde durch den Fakt bewiesen, dass seine Augenhöhlen mit brodelnden Körperflüssigkeiten gefüllt waren. Dampf aus dem pochierten Gehirn des armen Jungen quoll aus seinen Nasenlöchern und Ohren.
»Gott steh uns bei«, quäkte ich.
»Die Vollblütigen haben sie erwischt«, stellte Zalen ernüchtert fest, »was bedeutet, dass sie immer noch hier sein könnten.«
Diese Aussicht ergriff mein Herz wie mit einer Geierklaue und drückte zu. Wir schlitterten beinahe in Richtung des Wagens und wagten nicht zu blinzeln. Aber dennoch wirbelten meine Fragen strudelartig im Kopf herum. »Vorhin haben Sie mir erzählt, dass die Frauen ihr erstgeborenes Kind behalten dürfen, während die anderen den Vollblütigen überlassen werden müssen.«
»Ja, und?«
»Aber Sie haben auch gesagt, dass Sie der Vater von Marys drittem oder viertem Kind wären. Was für ein verräterischer Kretin könnte denn sein eigenes Kind diesen Dingern im Wasser ausliefern?«
»Ich hatte dabei keinerlei Mitspracherecht, Morley. Wir haben keine Wahl hier – begreifen Sie das denn nicht? Wenn ich ›verräterisch‹ bin, dann ist Ihre geliebte Mary es auch.«
Davon wollte ich nichts hören. Ich wusste, ich wusste im tiefsten Innern meiner Seele, dass Marys Verfehlungen nur unter Zwang geschehen waren. Hätte sie sich geweigert, wären ihr Sohn, ihr Bruder und ihr Stiefvater zu Futter für die Vollblütigen verarbeitet worden.
»Und das Kind, das wir bekamen, war ein Unfall«, berichtete er. »Ich nehme an, damals habe ich sie wirklich geliebt – bevor sie dem Kollektiv beigetreten ist.«
Bei dieser Ausrede zuckte ich zusammen. »Nur ein gottloser Mann kann behaupten, eine Frau zu lieben, die er wie eine Handelsware prostituiert.«
»Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden.« Dann kicherte er. »Und ich glaube sowieso nicht an Gott.«
»Ich würde sagen, das ist offensichtlich …«
»Also, falls Ihr Gott wirklich existiert, werden Sie eine Menge beten müssen, um uns hier wegzubringen.« Wie erreichten den Lieferwagen; auf dessen Ladefläche standen zwei Benzinkanister. Zalen duckte sich, nahm einen und entleerte ihn vorsichtig in den Tank des Fahrzeugs. »Und«, fügte er hinzu, »Sie sollten beten, dass diese Rostschüssel anspringt …«
»Zuerst noch eine letzte Frage.« Ich konnte einfach nicht locker lassen und packte seine Schulter. Meine Neugier brannte glühend wie ein Brandeisen. »Ich will die Antwort, die Sie mir vorhin nicht geben wollten.«
»Ach, kommen Sie, Morley, wir müssen …«
»Ich bestehe darauf! Sie haben gesagt, dass das Ritual nur Fassade ist und sich auf ignorante, uralte Traditionen stützt: Okkultismus als ›Zuckerguss‹, um etwas anderes zu verbergen.«
»Genau!«
»Also, was ist mit den Babys? Was ist mit den Opfern? Wenn das Opfern von Neugeborenen keine okkulte Opfergabe ist, was kann es denn dann sein?«
»Es ist kein Opfer, um Himmels willen. Sie wollen die Neugeborenen studieren – um uns zu studieren. Ihr Gehirn, ihre Zellen, ihr Blut – einfach alles, um zu sehen, wie sie wachsen. Etwa, wie ich bereits sagte – die mikroskopischen Dinge in jeder Zelle, die uns zu dem machen, was wir sind … Das ist es, was sie studieren, damit experimentieren sie.«
»Ihr Verständnis der genetischen Wissenschaft muss das unsere tausenfach übersteigen«, meinte ich. »Das ist es also.«
»Ja. Opfergaben an den Teufel? Schwarze Magie? Das ist alles Stuss, wie es mein Großvater so schön ausgedrückt hat. Verzierung, Morley, um die unwissende Masse zu täuschen: uns.«
Wenig positiv gestimmt dachte ich über das Potenzial seiner Erklärung nach. Basierend auf dem Wenigen, was ich gelesen hatte, wusste ich, dass, theoretisch, das Studium der menschlichen Gene (insbesondere jener, die sich noch in der Entwicklung befanden wie bei Kindern) nicht nur das Verständnis über das menschliche Leben vergrößern konnte, mit dessen Hilfe ließ sich das menschliche Leben sogar verändern. Daher sah ich mich gezwungen, als Nächstes zu fragen: »Was ist der Zweck dahinter, dass sie uns auf genetischer Ebene studieren, Zalen?«
»Das ist der schlimmste Teil«, entgegnete er. »Sie hassen uns, Morley. Sie wollen uns auslöschen, aber nicht mit brutaler Gewalt.«
»Wie dann?«
»Mit Krankheiten, Missbildungen, Unfruchtbarkeit.«
»Natürlich«, krächzte ich, mir nun der Folgen bewusst. »Durch die Erforschung der Neugeborenen und durch Experimente an ihnen können die Vollblütigen unsere biologischen Schwachstellen herausfinden und Viren, Malignome und ansteckende Krankheiten entwickeln, mit dem sie die Menschen aus einer Vielzahl von Richtungen verheeren können.«
»Das ist richtig. Das ist es, was sie letzten Endes tun wollen …«
»Und Sie helfen ihnen dabei!«, fuhr ich ihn an.
Er runzelte im Mondlicht die Stirn. »Ich dachte, ich helfe Ihnen. Ich helfe Ihnen und Ihrer kostbaren Mary fliehen. Vergessen Sie das nicht.« Dann wandte er sich dem heruntergekommenen Fahrzeug zu. »Fangen Sie an zu beten, Morley. Beten Sie zu Ihrem Gott, dass es einen Anlasserknopf hat anstelle eines Zündschlosses …«
Ich betete tatsächlich darum, doch bevor ich damit fertig war, sprang ich zurück und schrie vor Angst auf, denn als Zalen die eingedellte und ausgeblichene Tür des Wagens öffnete, stieg er nicht etwa hinein, sondern er wurde hineingezogen …
… von zwei langen, dünnen, seltsam verdrehten, muskulösen Armen mit Händen, die eher den Vorderpfoten eines Frosches glichen, aber glatte, mit Schwimmhäuten verbundene, etwa 30 Zentimeter lange Finger hatten. Ich habe sein Gesicht nie gesehen, doch mir war völlig klar, was es war, aufgrund des penetranten Geruchs, der aus dem Wagen drang, nachdem Zalen die rostfleckige Tür geöffnet hatte. Es war der Geruch nach einem Fischberg, angereichert mit dem erdigen Geruch von Brackwasser. Ebenfalls nach Brackwasser sah die Haut dieses Dings aus. Es dauerte einige Momente, bis ich in den Schatten wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich glaubte, die von Beulen übersäte, kränklich grüne Haut schimmern zu sehen, als wäre sie nass, und als es im Lastwagen zur Auseinandersetzung kam, hörte ich überdies nasse Geräusche – überschwappende Geräusche –; und danach Geräusche, die noch gräßlicher waren.