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»Kehren wir zurück!« befahl Jacare Jack schließlich. »Ich glaube, bei so wenigen Menschen gehen wir kein Risiko ein.«

Sie kehrten zum Schiff zurück und setzten das Schiff an einer stillen Reede auf Sand. Nachdem sie die Kanonen an Land gebracht hatten, um jeden Angriff von der Steilküste aus zurückschlagen zu können, machten sie sich daran, das Schiff so schnell wie möglich zu reparieren und zu kalfatern.

Am dritten Tag entdeckten sie einige Ziegenhirten, die sie von den Klippen aus beobachteten. Über ihren Anblick zerbrachen sich die Piraten aber kaum den Kopf, denn die Hirten schien die Anwesenheit des mächtigen Schiffs mit seinen gut sichtbaren zwanzig Kanonen weit mehr zu beunruhigen.

Um so erstaunter waren die Piraten, als am nächsten Morgen langsam eine winzige Gestalt die glatte, wie mit dem Messer geschnittene Felswand hinabkletterte.

Sie hielten den Atem an, denn jeden Augenblick konnte dieses törichte Wesen in den Abgrund stürzen. Ihre Überraschung wurde jedoch noch größer, als sie schließlich feststellen mußten, daß da ein sehr junges und attraktives Mädchen auf diese Weise sein Leben aufs Spiel setzte.

Sebastian ging ihr entgegen, um sie wegen ihres törichten Verhaltens zur Rede zu stellen, doch das Mädchen ließ ihm gar nicht die Zeit, den Mund zu öffnen, sondern fragte in aller Unschuld:

»Fahrt ihr nach Westindien?«

»Ja«, sagte der Margariteno, dessen Verblüffung immer größer wurde. »Warum?«

Das Mädchen, denn es war kaum mehr als ein Mädchen, auch wenn es bereits weibliche Rundungen aufwies, zog aus der Tasche seines schlichten Kleids einen fleckigen Umschlag und reichte ihn Sebastian.

»Könnt Ihr mir den Gefallen tun und diesen Brief meinem Verlobten überbringen?« bat sie inständig. »Sie haben ihn vor einem Jahr eingezogen, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Die Schiffe kommen bei ihrer Rückkehr aus Westindien hier nicht vorbei.«

Sebastian nahm das grobe Papier, auf dem mit fast kindlicher Schrift zu lesen stand: »Pompeyo Medina. Westindien.«

»Aber in welchem Teil Westindiens ist er denn?« wollte er wissen.

»Das weiß ich nicht«, entgegnete das Mädchen mit rührender Offenheit. »Doch Westindien kann ja nicht sehr groß sein, und ich bin sicher, daß Ihr ihn findet. Er ist groß, hat braune Haare, riesige dunkle Augen und am Kinn ein tiefes Grübchen.« Sie zeigte ein faszinierendes Lächeln, als sie fragte: »Werdet Ihr ihm meinen Brief geben?«

»Ich werde tun, was ich kann«, versprach der Margariteno.

»Danke!«

Schon auf dem Rückweg drehte sie sich nach hundert Metern noch einmal um und rief ihnen fröhlich zu:

»Und sagt ihm, daß ich immer auf ihn warten werde. Immer!«

Dann verschwand sie endgültig, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sebastian blickte ihr nach, als hätte er gerade eine Fata Morgana erlebt.

Als er schließlich zurückkam, scharten sich seine Männer erwartungsvoll um ihn.

»Was wollte diese Verrückte?« fragte Lucas Castano geradezu neugierig.

Sebastian zeigte ihm den Brief:

»Wahrscheinlich ein Jahr weiterträumen.«

Als sie drei Tage später die Jacare endlich wieder zu Wasser ließen und Kurs nach Süden einschlugen, stieß der neue Kapitän einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, daß die Gefahr vorüber war, doch fragte er sich noch oft, wie es so seltsame Orte wie diese Insel geben konnte und so unschuldige Mädchen wie das mit dem Brief.

Ein steifer Nordostwind trieb sie, ohne daß sie sich groß anstrengen mußten, nach Westen. Über dem ruhigen, dunklen Meer wölbte sich ein klarer, wolkenloser Himmel. Und so gingen die Tage friedlich dahin, bis der Ausguck einen treibenden Leichnam direkt voraus meldete.

Sie betrachteten ihn, während er langsam steuerbord vorbeitrieb.

Es handelte sich um die von Fischen schon sehr angenagte Leiche eines mageren Jungen, der schon einige Tage im Wasser gelegen haben mußte. Der Zwischenfall wäre nicht unbedingt der Rede wert gewesen, wäre nicht drei Stunden später ein neuer Toter aufgetaucht. Und auf diesen folgte ein weiterer, und wieder einer, bis man von einer wahren Prozession von Leichen hätte sprechen können, die mit dem Gesicht nach unten in einem immer ruhigeren Meer dahintrieben.

Und alle waren schwarz.

Männer, Frauen und Kinder. Alle schwarz.

Einigen hatten die in der Umgebung kreisenden Haie einen Arm oder ein Bein abgerissen, und bei einem kleinen Mann schwammen die blutigen Eingeweide wie eine Familie von Quallen herum.

Selbst die rauhen Seewölfe, die an Gewalt und Tod gewöhnt waren, glaubten einem dantesken Schauspiel beizuwohnen, denn eines war klar: Die Menschen waren keines gewaltsamen Todes gestorben, sondern zweifellos unschuldige Opfer eines tragischen Schiffbruchs, der keinen verschont hatte.

Bald mußten sie jedoch feststellen, daß keine Spur eines Schiffbruchs zu entdecken war. Keine Planke, nicht einmal ein leeres Faß oder ein Segelfetzen… Nichts!

Nur Tote.

»Ein Sklavenschiff«, rief plötzlich Nick Cararrota aus.

Sebastian Heredia wandte sich dem häßlichen Malteser zu, der als bester Fechter an Bord galt und von dessen bewegter Vergangenheit man nur so viel wußte, daß er alles getan hatte, was auf dieser Welt nur verboten oder illegal sein konnte.

»Was soll das heißen, ein Sklavenschiff?« wollte er wissen.

»Daß vor uns wahrscheinlich ein Schiff fährt, das Sklaven aus Senegal geladen hat.« Der narbengesichtige Kerl spuckte in Richtung einer der Leichen aus. »Wenn die Ware krank wird, wirft man sie über Bord, noch bevor sie den Löffel abgegeben hat.«

»Warum das denn?«

»Wenn sie halbtot im Hafen ankommt, kauft sie keiner, und wenn sie an Bord stirbt, zahlt die Versicherung nicht.« Er fletschte seine schlechten Zähne wie ein hungriger Wolf. »Wenn der Kapitän die Kranken aber ins Wasser wirft, damit sie die übrige Fracht nicht anstecken, wird das als legal angesehen, und die Versicherung ersetzt die Auslagen.«

»Bist du sicher?« fragte Lucas Castano verblüfft. »Sollen wir vielleicht glauben, daß es eine Versicherung für solche Risiken gibt?«

»Natürlich! In London.«

»Und woher weißt du das?«

Der Malteser begnügte sich mit einem Schulterzucken und grinste fast belustigt, während er ironisch fortfuhr:

»Ich verstehe schließlich mein Metier «

»Bist du mal auf einem Sklavenschiff gefahren?«

»Nur ein einziges Mal«, gab Cararrota ohne jegliche Scham zu, »und ich kann dir sagen, man verdient dabei zwar Geld wie Heu, aber es ist der elendste Beruf, den ich kenne. Und ich kenne verdammt viele! Nicht um alles Geld in der Welt würde ich noch einmal auf einem dieser verfluchten Schiffe anheuern.«

Der Wind schlief ein.

Und es wurde Nacht.

Das Meer verwandelte sich in einen riesigen Spiegel, in dem bald der Mond glänzte, und es schien, als hätten sich alle Elemente verschworen, den Männern der Jacare ein immer höllischeres Spiel zu bieten.

Über die Reling gebeugt betrachtete Sebastian die halbe Nacht lang ein versteinertes Meer. Jeden Augenblick fürchtete er eine neue phosphoreszierende Masse zu sehen, denn um die Leichen wimmelten so viele winzige Fische im Wasser herum, daß es gespenstisch im Mondlicht leuchtete.

Er konnte es einfach nicht fassen, daß ein Mensch so tief sinken konnte, einen kranken Jungen lebendig ins Wasser zu werfen, um für dessen Leben ein paar Pfund von einer Versicherung einzustreichen.

»Die haben es nicht verdient zu leben«, sagte er zu sich selbst. »Die haben es wirklich nicht verdient.«

Kurz vor Sonnenaufgang war in der Ferne ein Stöhnen zu hören. Der Ausguck riß Lucas Castano aus dem Schlaf, und dieser weckte wiederum den Margariteno auf. Sebastian befahl sofort, Fackeln zu entzünden, Schaluppen ins Wasser zu lassen und nach etwaigen Schiffbrüchigen zu suchen.