Er ließ seine Vergangenheit Revue passieren, warf einen Blick auf seine Gegenwart und versuchte sich vorzustellen, wie seine Zukunft aussehen mochte. Über der schönen Bucht von Juan Griego wurde es langsam hell.
Vielleicht wäre es das Vernünftigste gewesen, alles aufzugeben und dem unbesonnenen Jungen als Seeräuber zu folgen, doch seine moralischen Überzeugungen hatte Hauptmann Sancho Mendana stets über seine eigenen Interessen gestellt. Daher verwarf er diese Idee sofort, denn sie ging gegen alle Prinzipien, die er stets verteidigt hatte.
Die Krone haßte die Piraten, daher war es seine Pflicht, sie zu bekämpfen, wo immer sie sich verbergen mochten, selbst wenn einer von ihnen der einzige Freund war, der ihm auf dieser Welt geblieben war.
Zurück auf der Jacare ließ Sebastián Heredia Lucas Castano holen und teilte ihm mit, daß er in Manzanillo an Land gehen wollte, um von dort bis nach La Asuncion die Suche nach seinem Vater fortzusetzen.
»Du bringst das Schiff zu den Frailes-Inseln. Dort gehst du bis Samstag nacht vor Anker und nimmst mich wieder an Bord.«
»Keine gute Idee«, entgegnete der Panamese sofort.
»Warum?«
»Weil die Männer unruhig sind«, lautete die ehrliche Antwort. »Seit der Fahrt nach England, dem Aufenthalt auf Lanzarote und der Geschichte mit der Four Roses haben wir keinen roten Heller mehr gesehen. Mit Seeräuberei hat das nichts mehr zu tun, finden sie.«
»Was kann ich denn dafür, daß wir auf unserem Weg nur ein Sklavenschiff getroffen haben?«
»Wir hätten die Schwarzen verkaufen können«, befand sein Stellvertreter überraschend unbefangen.
»Ich handle nicht mit Sklaven.«
»Die meisten Männer sehen das nur als Verkauf einer Ladung. Wir haben vorher auch nicht mit Piken und Schaufeln gehandelt, doch dann war’s ein großartiges Geschäft, und nur das zählt.«
»Für dich auch?«
»Meine Meinung tut nichts zur Sache«, gab der andere ungeniert zurück. »Ich gehöre zu den Offizieren, schlafe in einer guten Kajüte und muß nur Befehle erteilen.« Er schüttelte den Kopf. »Doch die meisten Männer müssen mit einer Hängematte in einem heißen Verschlag unter Deck vorliebnehmen, stehen Wache oder klettern auf die Mäste und scheuern sich dabei die Hände wund, und der einzige Grund, warum sie dieses Leben ertragen, ist die Hoffnung auf eine gute Beute. Und wenn die ausbleibt, werden sie rebellisch.«
»Verstehe…«
»Verstehen allein genügt nicht. Du mußt es verinnerlichen. Jetzt bist du der Kapitän, und zunächst einmal mußt du die Besatzung bei Laune halten, wenn du nicht riskieren willst, daß man dich über Bord wirft.«
»Ich werde daran denken.«
Der Margariteno schloß sich in seiner Kajüte ein, dachte über drei Stunden lang nach und ging schließlich an Deck. Dort nahm er auf der Brücke Platz und ließ die gesamte Besatzung zusammenläuten.
Als alle versammelt waren und ihn erwartungsvoll anblickten, musterte er der Reihe nach ihre Verbrechervisagen und erklärte betont gelassen:
»In letzter Zeit ist es nicht sehr gut gelaufen, und ihr seid wahrscheinlich ungehalten, doch das wird sich ändern.« Er räusperte sich, um mit noch tieferer Stimme fortzufahren: »Ihr wißt, daß wir Ende Oktober haben. In einem guten Monat wird die Flotte aus Sevilla hier auftauchen…«
»Ich hoffe, du bist nicht auf den Gedanken gekommen, sie anzugreifen…«.warf Zafiro Burman sarkastisch ein. »Sie würden uns in Stücke schießen.«
»Nein!« antwortete er trocken. »So verrückt bin ich nicht!«
»Also was dann…?«
»Ihr müßt wissen, daß die Casa de Contratación zu dieser Zeit in La Asunción die meisten Perlen aufbewahrt, die das Jahr über gesammelt worden sind. Wenn die Produktion nicht zu sehr nachgelassen hat, dürften das über sechstausend sein.«
»Sechstausend!« rief einer erstaunt aus. »Nicht möglich.«
Der junge Kapitän Jacare Jack nickte nachdrücklich.
»O doch, wenn auch nicht alle von guter Qualität sind. Ich weiß, daß ein Schiff der Flotte sie an Bord nimmt, um sie nach Cartagena de Indias zu bringen. Dort kommen sie zu den Smaragden aus Nueva Granada, dem Gold aus Mexiko und dem Silber aus Peru.« Er ließ seine Männer eine Weile daran kauen und fuhr schließlich fort. »Ich habe vor, mir diese Perlen zu holen, bevor man sie fortschafft.«
»Wie soll das gehen?« wollte der erste Steuermann wissen, dessen Aufmüpfigkeit sich wieder im Auftrieb befand. »Niemand hat es je geschafft, La Asuncion anzugreifen.«
»Vielleicht weil es keiner aus Margarita versucht hat«, beschwichtigte Sebastian. »Ich verlange nur eins von euch: Habt eine Woche Geduld. Der Rest ist meine Sache.«
»Bist du sicher, daß du nur eine Woche brauchst?« wollte Nick Cararrota wissen.
»Ganz sicher.«
Er kehrte in seine Kajüte zurück, doch wenige Augenblicke später klopfte Lucas Castano an die Tür, trat ein und schloß sie hinter sich.
»Du riskierst verdammt viel«, war das erste, was er sagte. »Na schön, du hast ihnen die Beute schmackhaft gemacht und kannst jetzt deinen Vater suchen gehen, aber was wirst du ihnen nach deiner Rückkehr sagen?«
»Wenn ich die Perlen mitbringe, wird sich keiner beschweren.«
»Und falls nicht?«
»Dann schicken sie mich wohl zu den Haien.«
»Das siehst du ganz richtig!« versicherte der Panamese. »Du hast doch sicher einen Plan?«
»Natürlich.«
Der Panamese nahm auf dem Fensterbrett des großen Achterfensters Platz und musterte seinen unberechenbaren Kapitän wie ein Wesen von einem anderen Stern.
»Noch habe ich nicht herausgefunden, ob du der listigste Fuchs bist, dem ich je begegnet bin, oder der naivste«, murmelte er schließlich und ließ einen tiefen Seufzer hören. »Jedenfalls sitzt du auf dem Kapitänsstuhl, und das Schiff gehört dir. Ich hätte es in tausend Jahren nicht bekommen.«
»Und was heißt das deiner Meinung nach?«
»Entweder bist du wirklich der Schlauste, oder die Einfalt kann ein einträgliches Geschäft sein.«
»Na schön! Dann befiehl also Kurs auf Manzanillo. Wir werden sehen, was herauskommt.«
Nach Mitternacht betrat Sebastián Heredia ein weiteres Mal seine Heimatinsel. Nur in Begleitung von Justo Figueroa, einem rachitischen Krummbein, das mehr von einem schwindsüchtigen Straßenhändler als von einem Piraten an sich hatte, begab er sich auf einen Pfad, der sie zum übertriebenerweise sogenannten Königsweg führte, der den Norden der Insel mit La Asuncion verband.
Keiner achtete auf die beiden. In ihren abgerissenen Lumpen unterschieden sie sich kaum von den vielen hungernden Landstreichern, die in diesen Tagen von einem Ort Margaritas zum anderen zogen, um ihr Leben zu fristen. Die Zeiten wurden immer schwieriger, wie Hauptmann Mendana versichert hatte.
Der Verlust der Four Roses und ihrer kostbaren menschlichen Fracht hatte den ohnehin jähzornigen Don Hernando Pedrárias völlig aus der Haut fahren lassen. Um seine Verluste wettzumachen, verstärkte er nunmehr den Druck auf die darbende Inselbevölkerung auf geradezu absurde Weise.
Überall waren Klagen zu hören.
Leise zwar, aber Klagen.
Und Flüche.
Schmähungen und Flüche, die dem »Schwein Pedrárias« und der »Hure Matamoros« galten.
Unter ihresgleichen machten die am Boden zerstörten Margaritenos aus ihrem Herzen keine Mördergrube, wenn es darum ging, das »Schwein Pedrárias« für alles Ungemach, das sie ruiniert hatte, verantwortlich zu machen. Viele fragten sich, wie ein einziger Mann aus der ihrer Ansicht nach reichsten Insel der Erde ein Armenhaus hatte machen können.
Die unvorstellbar raffsüchtige Casa de Contratación schien nur ein Interesse zu haben: jedes Jahr noch größere Reichtümer nach Sevilla zu schicken. Millionen fielen dabei für die täglich zahlreicher werdenden unfähigen Schmarotzer ab. Der ehrgeizige Hernando Pedrárias schien alle Übel der Casa so sehr in sich zu vereinen, daß auf Margarita jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft erstorben war.