Alle Bewohner Margaritas, die auf der Insel zur Welt gekommen waren, erinnerte er daran, daß die Strafe für säumige Steuerzahler sechs Jahre Kerker lautete, und »riet« ihnen daher, so schnell wie möglich mit ihren Booten in See zu stechen.
»Die Geduld der Krone hat ihre Grenzen«, schloß er unmißverständlich. »Und diese Grenzen sind nunmehr erreicht.«
Don Hernandos hochmütige Haltung wandelte sich jedoch urplötzlich, als man ihm die bescheidene Familie Heredia vorstellte. Denn kaum hatte der scheinbar gefühllose Generalbevollmächtigte der Casa de Contratación von Sevilla auf Margarita seine Augen auf Emiliana Matamoros gerichtet, verliebte er sich unsterblich in sie.
Aus heiterem Himmel schien ihn der Blitz getroffen zu haben: Seine Stimme versagte, die Hände zitterten, als ihm sein Schreiber das Schriftstück reichte, und kaum wagte er den Blick zu heben, aus Furcht, seine Augen könnten das Feuer verraten, das in seinem Herzen zu lodern begann.
Doch auch ohne diesen Blick wußte das Objekt seiner Begierde, was geschehen war, denn seit Emiliana bis drei zählen konnte, hatte es Männern bei ihrem Anblick die Sprache verschlagen.
Der einzige, der dagegen gefeit war – er sprach ohnehin nicht viel – war ihr Ehemann, und vielleicht hatte sie ihn gerade deshalb geheiratet.
Doch an diesem heißen Septembermorgen begriff Emiliana Matamoros, daß sie, barfuß und lediglich in ein grobes Kattunkleid gehüllt, zur absoluten Herrscherin über die Träume und den Willen eines Mannes geworden war, den man zu diesem Zeitpunkt als unbeschränkten Machthaber der Insel bezeichnen konnte.
Über zwanzig Jahre grübelte Sebastián Heredia Matamoros darüber nach, wie geschehen konnte, was er im Inneren seines Herzens niemals akzeptieren sollte: Seine Mutter hatte sich mit Leib und Seele an einen Menschen verkauft, der ihre eigenen Leute ausplünderte. Als Don Hernando Pedrárias Gotarredona fünf Tage später in seinen Palast nach La Asunción zurückkehrte, nahm Emiliana Matamoros neben ihm Platz, und ihnen gegenüber eine rebellische und empörte Celeste.
Sebastián aber rannte fort, um sich im Dickicht von Cabo Negro zu verstecken, und schwor sich immer wieder, lieber mit einem Stein um den Hals ins Meer zu springen, als auch nur einen Fuß in jene Kutsche zu setzen. Inzwischen schmachtete sein Vater als angeblicher Anstifter des »Streiks« der Perlenfischer auf der Insel in einem Verlies der Festung La Galera.
Eine Woche später, als Sebastián auf der Schwelle seines Hauses saß und mit bereits tränenlosen Augen zusah, wie die Sonne am Horizont verschwand, ließ sich Hauptmann Sancho Mendana neben ihm nieder und legte nach langem Schweigen seine riesige schwielige Hand auf den braunen Schenkel des Jungen.
»Ich hab in meinem Leben ja schon viel gesehen«, flüsterte er schließlich mit rauher Stimme. »Wirklich eine Menge! Monatelang war ich hinter Mombars, dem Todesengel, her, und habe seine unglaublichen Grausamkeiten mit eigenen Augen gesehen. Da hab ich nun geglaubt, mich könnte nichts mehr erschüttern.« Er schüttelte den Kopf, und ein aufmerksamer Beobachter hätte ein feuchtes Schimmern in seinen Augen bemerkt. »Aber so was hätte ich mir bei Gott nicht träumen lassen.«
In seinem Kummer wußte der Junge nicht, was er erwidern sollte. Die Worte waren ihm ebenso versiegt wie die Tränen. Nach einigen Augenblicken fuhr Hauptmann Mendana deshalb fort, als hätte das Gesagte nichts mit ihm zu tun: »Mach das Boot deines Vaters flott und kümmere dich um Proviant, Wasser und Ersatzsegel. Die Leute im Dorf werden dich mit allem versorgen, was du brauchst, ohne Fragen zu stellen. Die Kosten übernehme ich.«
»Warum tust du das?« wollte der Junge wissen.
»Weil Samstag nacht ein Posten Wache steht, der bisweilen seltsame Anfälle bekommt«, entgegnete sein Gegenüber, als hätte er die Frage nicht richtig verstanden. »Kurz vor elf wird er herauskommen, um frische Luft zu schnappen, und wie vom Blitz getroffen neben der Seitentür umfallen.« Wieder blickte er dem Jungen fest in die Augen. »Hol deinen Vater raus und sag ihm, er soll nach Kuba, Puerto Rico oder Panama gehen. Wohin er will, nur nicht aufs Festland.« Seine Hand drückte den Schenkel des Jungen noch fester. »Und auf keinen Fall darf er nach Margarita zurückkehren. Das ist meine einzige Bedingung, denn sonst muß ich ihn verhaften.«
»Aber warum machst du das alles?« beharrte der Junge auf seiner Frage.
»Mein Gott, stell dich doch nicht dümmer als du bist«, erregte sich der andere. »Was glaubst du wohl, warum? Ich war bei deiner Geburt dabei, und dein Vater ist stets mein einziger Freund gewesen. Glaubst du vielleicht, ich lasse ihn im Kerker vermodern, nur damit sich dieser Hurensohn ohne Furcht mit seiner Dirne amüsieren kann?« Dann schien im klar zu werden, was er da eben gesagt hatte, und er räumte ein: »Entschuldige bitte. Ist ja immer noch deine Mutter.«
»Jetzt nicht mehr«, gab der Junge trocken zurück, um kurz darauf doch das zu fragen, worauf er niemals eine Antwort zu finden glaubte: »Warum hat sie das gemacht? Gut, mein Vater ist arm, doch er hat sie über alle Maßen geliebt, und wir sind doch glücklich gewesen.«
Während die Sonne endgültig am Horizont verschwand, dachte Hauptmann Sancho Mendana darüber nach. Er wußte, wie wichtig seine Antwort für diesen Jungen mit den großen fragenden Augen sein würde.
»Die Not gibt meist schlechte Ratschläge«, murmelte er schließlich. »Vielleicht hat deine Mutter ja mehr an die Zukunft ihrer Kinder als an ihren Ehemann gedacht, und vielleicht sorgt sie dafür, daß euch dieses Schwein eine angenehme Lebensstellung verschafft.«
»Ohne mich«, gab der Junge entschieden zurück.
»Überleg’s dir lieber noch mal.«
»Da gibt’s nichts zu überlegen«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Ich geh mit meinem Vater.«
In tiefer Zuneigung strich ihm Hauptmann Mendana über die Wange und sah ihm direkt in die Augen.
»Ich wußte, daß du das sagen würdest. Bei Männern irre ich mich selten, und du bist bereits ein Mann.« Er lächelte, als wollte er sich über sich selbst lustig machen. »Mit den Frauen ist das was anderes. Da treffe ich selten ins Schwarze.«
In den folgenden Tagen kamen die meisten Einwohner von Juan Griego zum Haus der Heredias und brachten alles mit, was für eine lange Überfahrt nach Puerto Rico oder Hispaniola nötig war. Die meisten legten ihren Beitrag wortlos auf die Türschwelle, um den Schmerz des Empfängers durch das, was sie sagen würden, nicht noch zu vergrößern.
Der Zimmermann und sein Gehilfe dichteten den Bootsrumpf mit Pech ab und richteten einen neuen Mast auf, während Meister Amador großzügig ein neues Segel opferte, das seine Töchter in monatelanger Arbeit gewebt hatten.
Am Samstag abend gingen die Lichter des Dorfes früher aus als gewöhnlich. Nur im Turm der Festung La Galera, in der Kammer von Hauptmann Sancho Mendana, flackerte noch eine einsame Kerze.
Um viertel vor elf verlosch auch diese.
Fünf Minuten später öffnete ein Wachposten die kleine Seitenpforte der Verliese, atmete tief die warme Nachtluft ein, sah zum schwarzen Himmel hinauf und brach wie vom Blitz getroffen zusammen. Ein schwerer Schlüssel klirrte auf das Pflaster.
Ein Schatten löste sich aus den anderen Schatten, ergriff den Schlüssel und verschwand in den mächtigen Kasematten. Wenig später tauchte er wieder auf, mit einem Schlafwandler an der Hand, der nicht zu wissen schien, wie ihm geschah und wohin man ihn führte.
Sebastián mußte seinen Vater bis zur Anlegestelle schleifen, denn der arme Miguel Heredia hatte in seiner Verwirrung nur einen Wunsch: nämlich schnurstracks nach Hause zu Frau und Tochter zu marschieren.