»Wäre das nicht ohnehin das Beste?«
»Das haben wir schon diskutiert. Nein, das wäre es nicht. Wie Celeste schon gesagt hat, bin auch ich ein Kind meiner Zeit.«
Als die Sonne die Wipfel der Palmen im Westen der Bucht streichelte und eine leichte Brise die schlaffen Fahnen fächelte, da erschien es, als hätte dieser Wind die Stadt aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt. In den Straßen regte sich plötzlich Leben, die Freudenmädchen machten sich hübsch, die Händler öffneten ihre Läden, und die Wirte wischten die Tische ab und füllten die Krüge mit Rum.
Port-Royal machte sich zu einer neuen Nacht der Sünde bereit, in der alles, außer Raub, erlaubt schien.
Bei Anbruch der Dunkelheit sprangen die Besatzungen der großen Schiffe in die Beiboote, um ohne Hast zum Strand zu rudern. Bald näherte sich eine Schaluppe der Jacare, und ein kleiner Mann mit riesigem Schnurrbart und rumseliger Stimme rief nach oben:
»Ahoi Jacare! Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen. Wo bist du, verfluchter schottischer Rotschopf? Seit Jahren hab ich dich nicht mehr gesehen.«
Lucas Castano lehnte sich rasch über die Reling, um den Neuankömmling lächelnd zu begrüßen.
»Guten Abend, Kapitän Scott! Tut mir leid, aber der Kapitän fühlt sich nicht wohl und hat befohlen, daß ihn keiner stört.«
»Hab mich schon gewundert, warum er so ohne Grund hier auftaucht!« schluckte der andere die Lüge. »Was ist los mit ihm?«
»Das Fieber, Senor. Ihr wißt ja! Der Arzt sagt, nach einigen Tagen Ruhe ist er wieder wie neu.«
»Ach was, alt ist er«, lästerte Kapitän Scott und bedeutete seinen Männern, ihn an Land zurückzurudern, während er ausrief: »Hast du mich gehört, verfluchter schottischer Saufkopf? Alt bist du und traust dich nicht mehr zu den Huren von Port-Royal!«
Er verschwand in der Dunkelheit, während er sich auf die Schenkel klatschte, als hätte er niemals etwas Spaßigeres gesagt.
Erst jetzt ließ Lucas Castano die Mannschaft vor dem Achterkastell versammeln und befahl in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete:
»Alle, die keinen Wachdienst haben, können an Land gehen und saufen, was das Zeug hält, aber denkt daran: Der >alte Kapitän< bleibt weiterhin mit Fieber an Bord und will nicht gestört werden.« Drohend richtete er den Finger auf sie und fügte hinzu: »Morgen um zehn seid ihr wieder an Bord, oder ihr bekommt die Peitsche zu schmecken.«
»Um zehn!« protestierte eine anonyme Stimme.
»Morgens um zehn schließen die Bordelle und die Schenken, also habt ihr um diese Zeit nichts an Land verloren. Wer das letzte Boot verpaßt, darf schwimmen und wird sich damit abfinden müssen, daß ich ihm ein kariertes Hemd auf den Rücken zeichne.«
Das unzufriedene Gemurmel war schon nach einigen Augenblicken verschwunden, denn die Gewißheit, vierzehn Stunden der Zerstreuung vor sich zu haben, entschädigte für jede Auflage, und bereits wenige Minuten später waren nur noch die drei Männer an Bord der Jacare, die für den Wachdienst der ersten Nacht eingeteilt worden waren, sowie der philippinische Koch, Lucas Castano und die drei Mitglieder der Familie Heredia.
Letztere vier nahmen auf dem Achterkastell ein üppiges Abendessen ein und genossen die angenehme Seebrise, die ihnen die Moskitos vom Hals hielt, während das Lärmen und Lachen aus der Stadt zu ihnen hinüberwehte. Die Lichter der Stadt spiegelten sich in dem stillen Wasser der Bucht, in der sich die Silhouetten der küstennäher vor Anker gegangenen Schiffe abzeichneten.
Seit langem hatten sie keinen so angenehmen Abend mehr verbracht, denn vom riesigen Nachbarschiff wehte bald eine hinreißende Melodie herüber, und wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellten, konnten sie acht Musiker in schönen Uniformen ausmachen, die vor einem Dutzend Gäste auf ihren Saiteninstrumenten spielten.
»Das muß das neue Schiff von Laurent de Graaf sein«, bemerkte Lucas Castano. »Immer hat er ein Orchester an Bord, das sogar im Schlachtgetümmel spielt.«
»Das machen sie wirklich gut!« sagte Celeste anerkennend.
»Natürlich!« versetzte der Panamese. »Aber da er so nah ist, empfehle ich dir, daß du dich nicht sehen läßt. Es heißt, daß keine Frau De Graaf widerstehen kann, weil er der attraktivste Pirat der Karibik ist, mit den erlesensten Manieren.«
»Hast du Angst um meine Tugend?« wollte sie belustigt wissen.
»Ich habe eher Angst vor einem Kanonenduell mit diesem Monstrum, ohne daß wir Platz zum Navigieren haben«, stellte der Panamese klar. »Wenn sich eine Frau an Bord von einem Mann eines anderen Schiffs verführen läßt, ist es Brauch, daß die Ehre der Besatzung mit Blut und Feuer reingewaschen wird, und in diesem Fall verlieren wir.«
»Ich werde mir das hinter die Ohren schreiben!« sagte das kecke Mädchen reichlich verschmitzt. »Meine Tugend, so sehr ich sie schätze, ist sicher kein Schiff wie die Jacare samt Besatzung wert.«
Ihr Bruder musterte sie, als hätte er sich immer noch nicht an ihr lockeres Mundwerk und ihr Benehmen gewöhnt.
»Du erstaunst mich immer wieder!«
»Wart’s ab. Aber mach dir keine Sorgen«, fügte sie lächelnd hinzu. »Ein Pirat in der Familie reicht.«
Sebastián wandte sich seinem Vater zu:
»Versprich mir, daß du ihr eine Begleiterin suchst, die ihr beibringt, wie sich eine richtige Senorita benimmt! Sie macht mich verrückt!«
»Ach komm!« rief Celeste aus und tätschelte ihm zärtlich die Wange. »Im Grund gefällt es dir doch, daß ich so bin. Dein Gesicht hätte ich sehen mögen, wenn du festgestellt hättest, daß du eine affektierte und scheinheilige Schwester hast.«
»Übertreiben mußt du es aber auch wieder nicht. Und jetzt schaue ich mir dieses berühmte Port-Royal mal näher an, von dem sie alle soviel reden.«
Kaum hatte Sebastián Heredia seinen Fuß in den Sand des Strands gesetzt, fühlte er sich wie auf einem verrückten Karussell. Eine neue Erfahrung jagte die andere. Die verschwenderische Zurschaustellung von Luxus, die oft zwischen Extravaganz und schlechtem Geschmack pendelte, überstieg in dieser von allen guten Geistern verlassenen Stadt alles, was ihm seine Gefährten an Bord während der vielen Jahre langweiliger Wachdienste an Deck hatten erzählen können.
Eine Tür führte in eine Würfelbude, die nächste in eine Schenke oder in ein Bordell. Schwere Kaleschen, von Pferden mit kostbarem Geschirr gezogen, fuhren die einzige Hauptstraße dieser chaotischen Stadt auf und ab, während schöne Frauen jeglicher Herkunft und allen Alters schamlos ihre Reize zur Schau stellten und sich von jedem potentiellen Klienten begrapschen ließen, der seine appetitliche »Ware« prüfen wollte, bevor er sie kaufte.
Von den weiten Baikonen forderten halbnackte Mädchen zischelnd die Passanten auf, über kurze Treppen zu ihnen hinaufzusteigen, und an den Türen der Spielhöllen priesen schwarze Sklaven mit riesigen Körben und schallenden Stimmen die besten Würfelpartien der gesamten Insel an.
Auf halber Höhe der Straße stieß Sebastián auf das riesige Schild, das die weltberühmte Schenke der»Tausend Jakobiner« ankündigte. Neugierig beschloß er, einen Blick auf den später nie mehr benutzten Tisch zu werfen, auf dem die Würfel gerollt worden waren, die in einer einzigen Nacht den unglücklichen Vent en Panne steinreich und bettelarm gemacht hatten.
Da stand er, stattlich und robust, auf einem kleinen Podest aus dunklem Mahagoni: ein absurdes und sehr eigenwilliges Denkmal, das die Seeräuberei in ihrer reinsten Form zu verkörpern schien. Dieses kleine Möbelstück symbolisierte alle Niedertracht und Größe in den Herzen der Menschen, die sich dem gefährlichsten und verrufensten Handwerk auf Erden verschrieben hatten.